Die Kenntnis von den menschlichen Sinnen – ihrer Funktions- und Wirkungsbereiche – ist eine wichtige Voraussetzung für die Gestaltung und Dimensionierung von Außenraum und Gebäudeanordnungen jeglicher Art. – Jan Gehl, Leben zwischen Häusern
Die Sowjetunion ist seit bald 35 Jahren Geschichte, an ihre Stelle sind 15 unabhängige Republiken getreten, von der Baltischen See über das Kaspische Meer bis zur zentralasiatischen Steppe und den Eiswüsten Sibiriens. Bei allen topographischen, klimatischen und kulturellen Unterschieden der jeweiligen Regionen springt eine harsche Uniformität ins Auge, die in erster Linie einem zentral von Moskau gesteuerten Entwerfen und Planen zuzuschreiben ist. Auch in der UdSSR galt es in den Nachkriegsjahren, rasch bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, zumal der Standard der Wohnungen und Häuser der 1930er Jahre weit hinter denen des westlichen Europas zurückfiel. Bis heute stilbildend sind die Chruschtschowka, in den 1960er und 70er Jahren hochgezogene vielstöckige Wohnriegel, die die werktätige Bevölkerung mit einem Mindestmaß an Komfort und Sicherheit versorgen sollten.
Diese Behausungen, die die Mehrzahl der Genossen der Sowjetrepubliken mit einem Dach über dem Kopf versahen, kommen langsam an das Ende ihres Lebenszyklus. Daher nimmt es nicht wunder, dass die Debatte um ihr Erbe bereits geführt wird. Denkmalschutz und Stadtplanung nehmen sich mit völlig unterschiedlichen Motiven ihrer an. Die Abkehr von jeglichem Dekor, vom KP-Chef Nikita Chruschtschow dogmatisch gefordert, hat gewaltige Monosiedlungen entstehen lassen, die das menschliche Maß bei weitem übersteigen. Dessen ungeachtet wird die steinerne Hinterlassenschaft der UdSSR fotografiert, kategorisiert und analysiert. Die Beschäftigung mit dieser Materie hat den Ruch des Verwegenen: Die erhaltenen Panelki wirken so einschüchternd, dass es einem Coup gleichkommt, sie als Objekte einer Ästhetik des Grauens zu behandeln. Die Grafikagentur Zupagrafika hat sich große Verdienste bei diesem Prozess des Bewahrens des Monströsen erworben.
David Navarro und Martyna Sobecka haben Zupagrafika 2012 im polnischen Poznan gegründet. Sie dokumentieren das architektonische und urbanistische Erbe der Sowjetunion und der anderen Länder des Warschauer Vertrages, das inzwischen alt genug ist, um der Historisierung anheimzufallen. Zupagrafika hat Bücher über den Brutalismus in Polen, Italien und England publiziert, über die Monotowns in den Weiten Russlands und immer wieder über Panelki, also in der Fabrik vorgefertigte Wände und Decken, die auf der Baustelle zu ganzen Häusern zusammengesteckt wurden. Ihr Buch „Soviet Playgrounds“ von 2022 versammelt Fotos von Spielgeräten, die sich zwischen den anonymen Hochhausblocks im ganzen Sojus finden, von Riga und Vilnius über Minsk, Magnitogorsk und Dnipro bis nach Taschkent, Duschanbe und Baikonur.
Das, was im Titel des Buches etwas hochnäsig „Spielplatz“ genannt wird, umfasst meist nicht mehr als ein Gerüst, eine Schaukel oder eine Rutsche, zufällig und lieblos zwischen die Blöcke gesetzt wie andernorts eine Wäschespinne oder ein Teppichklopfer. Von einem Platz mit Aufenthaltsqualität, der zwischen Wegen und Häusern vermittelt und der auch der Versammlung der Menschen dient, hier der spielenden Kinder, kann wahrlich nicht die Rede sein. Eine schützende Begrenzung der Spielflächen sucht man ebenso vergebens wie Sitzbänke für die beaufsichtigenden Eltern. Diese Anlagen waren bei der Errichtung der Siedlungen nicht eingeplant, sie wurden erst Jahre später eher verlegen ergänzt, um sich auch der jüngsten Bewohner der Panelki anzunehmen.
Als kindlich an den abgebildeten Spielgeräten kann die heitere Farbgebung mit den kräftigen Rot, Grün, Gelb und Blau gelten (ironischerweise auch die Signalfarben des Google-Logos), für ihre figürlichen Motive lässt sich das bereits weniger sagen. Auf verspieltem Wege sollen die Kinder an das Leben der erwachsenen Sowjetmenschen herangeführt werden, wenn sie etwa in einem angedeuteten Autonachbau sitzen. Besonders augenfällig sind die Raketen, die sich in allen ehemaligen Sowjetrepubliken als Spielgeräte finden – dazu reicht ein aufrechter, von innen erklimmbarer Zylinder, dessen Spitze verjüngend zuläuft, wie bei einer Patrone. Im Kalten Krieg berauschte sich die Führung der UdSSR an den offenkundigen Erfolgen der sowjetischen Raumfahrt; Juri Gagarin, 1961 erster Mensch im All, grüßt als Mosaik von Hauswänden, als Statue im Park und als Kosmonaut in Gestalt der kleinen Nikitas, Aljoschas und Wladimirs auf dem Площадка.
Auch andere primär militärisch nutzbare Artefakte werden als Spielgeräte aufgestellt. Neben der allgewärtigen Rakete als Symbol der Beherrschung des Orbits kommen Flugzeug- und Hubschrauberattrappen zum Einsatz, ebenso erhöhte Wachtürme, die für die Kontrolle von Grenzen, Gefängnissen und weiteren Sperrgebieten unerlässlich sind. Ein Gymnasium, das sich also an bereits halbwüchsige Sekundaner wendet, will den militärischen Aspekt seiner Spiel- und Sportausstattung gar nicht verleugnen. Ein kreisrundes Gestänge in über zwei Metern Höhe lädt die Schüler dazu ein, sich in Schlaufen durch das Rund zu hangeln – eine Drillübung, wie sie jeder sadistische Ausbilder für seine zu schindenden Rekruten im Repertoire hat. An diesem Gerät wird die Nähe zwischen Spiel und Sport ersichtlich, und ebenso die Abkunft des Trainings vom Soldatischen.
Die abgebildeten Spielgeräte sind ebenso in die Jahre gekommen wie die sie umzingelnden Hochhäuser. Rost frisst sich durch die verblassten Farben, in einer Rutsche sammeln sich Laub, Wasser und Sand, bei einer hölzernen Wippe fehlt an einem Ende der Haltegriff. Geradezu rührend die Schlichtheit mancher Konstruktion: Zwei Stahlrohre werden zu Halbkreisen gebogen, Sprossen verbinden und stützen sie, fertig ist die Kletterleiter. Andere Stahlrohre werden im rechten Winkel verschweißt, mehrere Kreise mit unterschiedlichen Durchmessern werden eingepasst, et voilà, eine Torwand steht zum Üben von Elfmetern bereit. Regelrecht komplex und multidimensional hingegen die übergroße Figur des Gulliver: Der Sagenheld kauert auf dem Boden, ist mit dem Aufrichten beschäftigt, über seine Arme, seine Brust und seine Schienbeine verlaufen lange Rutschen, die besonders imposant für Liliputaner wirken müssen. Ein Kettenkarussell vermittelt einen ersten Eindruck maschineller Geschwindigkeit; hegende Hausmodelle, die zum Verstecken einladen, tauchen jedoch im ganzen Band nicht auf.
Doch beliefern die Aufnahmen des besprochenen Bandes mehr als nur die Vergangenheit. Ein Bild aus einem Vorort von Kiew, aufgenommen Ende Februar 2022, zeigt eine Wohnscheibe nach einem Beschuss mit russischer Artillerie. Fensterglas ist zersplittert, die Fassade ist geschwärzt von der Explosion, Rahmen hängen in den Angeln, Kacheln sind abgeplatzt, Trümmer liegen verstreut auf dem Boden. Dass vor dem Haus eine kleine Rutsche in einem schreienden Mint steht, obendrein unversehrt, fällt erst beim längeren Betrachten des Bildes auf. Unwillkürlich drängen sich Szenen aus Kriegsgebieten auf, wo Kinder in Ruinen herumtollen und auf dem Dach eines ausgebrannten Panzers posieren. Wo endet das zweckfreie Spiel der Ausgelassenheit, wo beginnt die erste Lektion beim Aufwachsen in einer Welt voller Überraschungen und Gefahren?
Das Groteske des vorliegenden Bandes ist der Umstand, dass auf den dargestellten Spielplätzen kaum Kinder zu sehen sind. Viele Aufnahmen sind im schneereichen Winter entstanden, sodass Fußspuren zwischen den Geräten erkennbar werden. Ihr weitgehendes Fehlen lässt vermuten, dass die Kinder die ihnen zugedachten Zonen und Gestänge eher verschmähen als nutzen. Auf einer Szene in Toljatti ist immerhin ein Junge zu erkennen, der im Sitz einer Schaukel hängt, sich mit den Beinen Schwung verschafft und dabei seine volle Aufmerksamkeit einem kleinen Bildschirm zwischen den Händen zuwendet. Eine schlimmere Rüge für die Ingenieure dieser kindlichen Refugien ist kaum denkbar. Vermutlich ist der Grund für die Leere auf dem Площадка zwischen den hohen Häusern in deren Maßlosigkeit zu suchen. Erwachsene kennen das Gefühl der Beklommenheit zwischen den blinden Wohnriegeln, auf denen das Auge vergeblich nach Halt sucht – wie soll es erst bei Kindern sein, deren Körper, Gehirne und Sinne stetig wachsen und mit dem Verarbeiten der Reize eines Tages vollauf beschäftigt sind?
Die Trabantenstädte des Sojus folgten dem seinerzeit dominanten Konzept der Funktionstrennung. Sie dienten primär der Erholung und dem Schlaf, zum Arbeiten pendelte man mit der Tram oder dem Auto in die Innenstadt oder in die Fabrik. Eine Infrastruktur der Freizeit, der medizinischen Versorgung, der schulischen Bildung und des Handels wurde anfangs nicht mitgedacht; sie wurde ähnlich wie die Spielplätze nachträglich angestückelt. Damit ist das Deprimierende der großen Siedlungen trotz ihres relativen Komforts mit Fernwärme, Bädern, fließend warmem Wasser und Müllschlucker benannt. Der unausweichliche Beton versorgt die Leiber der Menschen mit Wärme und Schutz, lässt allerdings ihre Seelen und Sinne veröden. Gerade am Aspekt der Spielplätze zeigt sich bei der Bestandsaufnahme der Panelki, dass sich Häuser und Quartiere für Menschen gerade so nicht bauen lassen. Die Sanierung und streckenweise Umwidmung der Plattenbauten stellen die städtebaulichen Aufgaben der Jetztzeit dar – mögen die abschreckenden Beispiele der Vergangenheit dabei ihre lindernde Wirkung entfalten.