Adeste, fideles

  Wenn du etwas Gutes beginnst, bestürme Gott beharrlich im Gebet, er möge es vollenden. – Regel des hl. Benedikt, Prolog 4


Nun freut euch, ihr Christen, singet Jubellieder
Und kommet, o kommet nach Bethlehem.
Christus der Heiland stieg zu uns hernieder.
Kommt, lasset uns anbeten, kommt, lasset uns anbeten,
Kommt, lasset uns anbeten den König, den Herrn.

O sehet, die Hirten eilen von den Herden
Und suchen das Kind nach des Engels Wort;
Gehn wir mit ihnen, Friede soll uns werden.
Kommt, lasset uns anbeten, kommt, lasset uns anbeten,
Kommt, lasset uns anbeten den König, den Herrn.

Der Abglanz des Vaters, Herr der Herren alle,
Ist heute erschienen in unserm Fleisch:
Gott ist geboren als ein Kind im Stalle.
Kommt, lasset uns anbeten, kommt, lasset uns anbeten,
Kommt, lasset uns anbeten den König, den Herrn.

Schaut, wie er in Armut liegt auf Stroh gebettet,
O schenken wir Liebe für Liebe ihm!
Jesus, das Kindlein, das uns all errettet:
Kommt, lasset uns anbeten, kommt, lasset uns anbeten,
Kommt, lasset uns anbeten den König, den Herrn.

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Die Weihnachtszeit sowie Silvester sind für Kerstin nur schwer erträgliche Tage. Zu dieser emotional belasteten Zeit, die ganz im Zeichen der Familie und der Gemeinschaft steht, wird ihr ihre Einsamkeit als besondere Last bewusst. Im Alltag dominiert die Arbeit, doch wenn der Betrieb zum Jahresende ruht, wachsen Nervosität und Leere im Zeichen der heiligen Zeit. Kerstin hat es sich zur Regel gemacht, Weihnachten und den Jahreswechsel im Gästehaus eines Klosters in Westfalen zu verbringen, eine gute Entscheidung auch in diesem Jahr.

Am 23. Dezember kommt sie in Gerleve an, einem Flecken im westlichen Münsterland zwischen Billerbeck und Coesfeld, unweit der niederländischen Grenze. Hier leben seit 1899 Mönche des Benediktinerordens unter dem Motto „Ora, lege et labora“, sie pflegen den traditionellen gregorianischen Gesang, widmen sich dem Studium und der Lehre der Theologie, beackern die Felder und ziehen Kräuter, leiten Exerzitien und empfangen Gäste rund ums Jahr. Kerstin kennt die Klosteranlage, die im Stil der westfälischen Neoromanik nach Plänen des Architekten und Benediktiners Ludger Rincklake errichtet wurde, seit über 20 Jahren; mit ihren Eltern ist sie oft am Sonntag zum Besuch der Vesper hergekommen. Doch sollte es bis zum Tod ihrer Mutter dauern, bis sie ihren Wunsch, für mehrere Tage als Gast einzukehren, wahrmachen konnte.

Ihr karg ausgestattetes Zimmer im Neubau des Gästehauses nimmt Anleihen an einer Klause. Ein Tisch, ein Bett, ein Schrank, zwei Stühle, dazu eine schmale Nasszelle, das ist alles. Das Fenster geht nach vorn zum großen begrünten Vorhof der Klosteranlage hinaus, in der hügeligen Ferne sind vereinzelte Gehöfte zu erkennen. Ein Fernsehgerät gibt es nicht, das WLAN ist recht wacklig, an der Wand hängt das blanke Kreuz, im kleinen Regal stehen die Bibel, das Vesperale Monasticum, die Regel des heiligen Benedikt und ein Band zur Geschichte der Abtei. Wer hier herkommt, ist dankbar für die Ruhe und die fehlenden Ablenkungen und digitalen Zeitfresser. Kerstin hat rasch ihre Kleider, Toilettenaccessoires und Bücher verstaut, sie freut sich auf eine gute Woche ohne Termine, Fristen, Pflichten und Rechner.

Beim Abendessen im Speisesaal mit dem üppigen Salatbuffet erblickt Kerstin etliche bekannte Gesichter. An ihrem Tisch sitzt eine gebürtige Französin, die als Lehrerein im Sauerland gearbeitet hat und sie ebenfalls wiedererkennt. Sie nimmt unter den Anwesenden neben der Freude eine allgemeine Erleichterung wahr, nicht allein zu bleiben an den Feiertagen. Ansonsten sind die Gäste demographisch wie erwartet: Zu mindestens 70 Prozent Frauen, weiter zu mindestens 70 Prozent über 70. An ihrem Tisch sitzen noch zwei ältere Damen aus der nahen Westfalenmetropole, die sich über die stimmige Gesellschaft zu Weihnachten freuen. Das ist offenbar ihr Milieu, in dem sie sich sicher fühlt.

Am zweiten Weihnachtstag organisieren die Mönche ein gemeinsames Singen vertrauter Weihnachtslieder. Kerstin wünscht sich das „Adeste, fideles“, eine echte Hymne in schmetterndem C-Dur. Der Text des lateinischen Originals stammt von Jean Francois Borderies (etwa 1790), die Musik von John Reading (vor 1681), die deutsche Übersetzung schließlich von Joseph Mohr (1873). Das Lied, das im Gotteslob unter der Nummer 241 zu finden ist, wurde 1978 von Luciano Pavarotti in der Kathedrale Notre Dame de Montreal plus Chor aufgeführt; diese Version ist Kerstin Ansporn und Einschüchterung zugleich. Wer könnte so glockenrein die Frohe Botschaft von der Geburt des Herrn intonieren wie der italienische Tenor auf dem Gipfel seiner Sangeskraft? Doch egal, im Kreise der Gläubigen in Gerleve steht das seelisch Verbindende im Vordergrund, oder wie ein Mönch zum Abschluss des Liedernachmittages bemerkt: „Wer singt, betet doppelt.“

Kerstin kommt die vorübergehende Gemeinde der Feiertage in der Ludgerirast vor wie die Patientenschar auf dem Berghof in Thomas Manns „Zauberberg“, inklusive des schlechten und des guten Russentisches. Auf dem Berghof in Davos wird der Alltag der Tuberkulosepatienten streng rhythmisiert von den gewaltigen proteinreichen Mahlzeiten, da man seinerzeit, vor der Entwicklung der Antibiotika, die Schwindsucht mit erhöhter Kalorienzufuhr medizinisch zu bekämpfen gedachte. In Gerleve ist das Essen ebenso vollwertig, abwechslungsreich, nahrhaft und lecker, die Gerichte werden mit regionalen und saisonalen Zutaten gekocht. Die Gespräche am Tisch drehen sich um die Abtei, das für die Jahreszeit viel zu milde Wetter mit Windböen und Regenschauern, die abwesende Familie, das überreiche Essen und die anderen Gäste, Klatsch, der mit der Zeit intensiver wird. Frauen aller Art treffen sich auf Zeit und bilden intuitiv eine Schicksalsgemeinschaft, das weibliche Lästern wird zum Schmiermittel der Kommunikation.

Der spirituelle Höhepunkt eines jeden Tages ist für Kerstin die lateinisch gesungene Vesper, das Abendlob, das in der benediktinischen Tradition das Tagwerk beendet und das Tor zur Nacht öffnet. Den gregorianischen Gesang der Mönche kann Kerstin nur als hohe Kunst bezeichnen. Der Kantor singt die ersten Verse der Psalmen, der Chor, getragen von der Orgel, antwortet gemessen. Im Chor sind alle Stimmen zu einer aufgehoben, sie singen die Verse synchron und dennoch sind die etwas helleren Stimmen der jüngeren Mönche von den brüchigeren der älteren zu differenzieren. Ohne Verstärkung durch Mikrofon und Lautsprecher ist die Akustik in der Abteikirche hervorragend. Kerstin fühlt sich wie ein Schwamm, der möglichst viel von diesen Zaubertönen auf Vorrat aufnehmen will, um beseelt und beglückt in den Alltag entlassen zu werden. Nach dem Auszug der Mönche zum Ende der Vesper bleibt der Organist am Manual und improvisiert über einer populären Melodie, an Silvester tut er das passend über „Auld lang syne“. Kerstin kommen Tränen der Freude.

Die Nachmittage verbringt sie bevorzugt allein. Die Abtei ist malerisch eingefügt in die Parklandschaft der Baumberge, vor der Tür beginnen mehrere Wanderwege, die sich kombinieren und von der Länge variieren lassen. Mehrfach wandert sie die Strecke ins nahe gelegene Coesfeld, der Weg dahin gerät ihr zur Meditation in Bewegung. Ihr Ohr differenziert in der Abwesenheit des monotonen Lärms der Großstadt verschiedene Klänge: Den eigenen Atem, den Wind im offenen Haar, das Reiben der Jeans bei jedem Schritt, das Abrollen der Sohlen, dazu entfernt bellende Hunde und einzelne Autos sowie alle Viertelstunde die Glockenschläge der Abtei. Eine andere Tour führt sie über die matschigen Felder ins nordöstlich der Abtei gelegene Billerbeck. Auf einer Anhöhe macht sie auf einer wie bestellt platzierten Bank Rast. Der Ort mit seinem markanten zweizackigen Dom (ebenfalls ein Werk Ludger Rincklakes) liegt wie hingegossen in der Ferne vor ihr, flankiert von verstreuten Bauernhöfen, umschlossen von Waldstücken und winterkargen Feldern. Darüber ein Himmel voller Wolken in Silber, Schiefer, schmutziger Watte und Blei mit einzelnen Rissen aus Azur. Dieses Panorama imitiert die Gemälde der legendären niederländischen Landschaftsmalerei des goldenen 17. Jahrhunderts.

In der heiteren Atmosphäre zwischen Abgeschiedenheit, Fürsorge und Gebet lässt sich Kerstin entgegen ihrer Asperger-Tendenzen bereitwillig auf die Gespräche mit ihren Tischnachbarinnen ein. Eine Witwe, die ganz in der Nähe wohnt und häufig für einen halben Tag die Abtei besucht, offenbart ihre finanziellen Schwierigkeiten, die ihr kaum einen Aufenthalt über Weihnachten erlauben; eine gepflegte, ebenfalls alleinstehende Dame, die in ihrem Leben vielfach umgezogen ist, erzählt von ihrem Entschluss, jeden Ort, an dem sie lebt, zu ihrer Heimat zu machen. Eine weitere schließlich beschenkt Kerstin mit Komplimenten für ihre angebliche Schönheit und ihre faszinierende Handsprache und spricht anerkennend von ihrer eleganten wie strengen Kleidung. In Gegenwart einer dritten schließlich nennt sie Kerstin laut vernehmbar „ein schönes Weib“, was diese nur verlegen zur Kenntnis nimmt.

Zur Anlage gehört auch eine vorzüglich bestückte Buchhandlung mit dem Schwerpunkt auf theologischer, künstlerischer und schöngeistiger Literatur. Kerstin kann dem Angebot erwartungsgemäß nicht widerstehen und kauft neben einem Buch der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux die Textbücher zur Vesper und zur Eucharistie. So kann sie, so ihre Idee, daheim fern von Gerleve, zur Zeit der Vesper den lateinischen Text mitlesen und sich dergestalt in die Abteikirche imaginieren. Dieser Ort hat für sie die Qualität einer Heimat, gesund wirkt er ohnehin. So spürt Kerstin während ihres Aufenthaltes ihren Arthroseschmerz im Knie nur abgeschwächt, auch ihre Gier nach Narkotika ist deutlich reduziert. Sie erklärt sich diesen heilsamen Zustand mit der Nähe zu Gott an diesem Ort, in dieser sozialen Situation, die nach einer Wiederholung ruft. Bis es soweit ist, will sie ihr Alltagsleben in der großen Stadt unter den Wahlspruch Benedikts „Bete, lies und arbeite“ stellen. Das ist ein wahrer Grund zur Freude.