Adieu

  Should auld acquaintance be forgot and never brought to mind? Should auld acquaintance be forgot and days of auld lang syne? – Alte schottische Volksweise

Je älter Kerstin wird, umso mehr Freundinnen und Freunde versterben ihr. Vor zwei Wochen erfuhr sie vom Tode Gottfrieds, eines lieben Freundes, der vor Jahresfrist noch seine Frau zu Grabe tragen musste und ihr nun nachfolgt. In der kommenden Woche wird er zu ihr in die Erde fahren, Kerstin wird ihn auf diesem letzten Weg begleiten. Auch wenn der Tod in seinem Fall einem körperlichen Ruin ein gnädiges Ende bereitete, lässt er doch einen diffusen Raum der Trauer zurück. In diesem Raum hallt für Kerstin ein ums andere Mal die Abschiedshymne Auld lang syne nach.

Das Lied, dessen Titel im gegenwärtigen Englisch mit Old long since wiedergegeben wird, was so viel wie Längst vergangene Zeit bedeutet, zählt zu den bekanntesten englischsprachigen Liedern überhaupt. Der schottische Originaltext geht zurück auf das Jahr 1710, als Autor wird Robert Burns genannt, die heute dazu gesungene Melodie wird 1800 erstmals notiert. Die Worte dazu sinnen dem Vergangenen, in der Zeit Versunkenen nach und verweisen auf das Weiterleben der Ahnen und des Zurückliegenden im Herzen. Alles ist dem Walten der Zeit anheimgegeben, bereits im Werden und Blühen sind Schwund und Vergehen angelegt. Die deutsche Fassung drückt es so aus: „So ist in jedem Anbeginn das Ende nicht mehr weit. Wir kommen her und gehen hin, und mit uns geht die Zeit.“

Das Lied wurde weithin populär in der Pfadfinderbewegung, wo es unter verschiedenen Texten gesungen wurde: Der bekannteste deutsche ist sicher Nehmt Abschied, Brüder, ungewiss, im Französischen wird daraus Faut-il nous quitter sans espoir, im Japanischen heißt diese Weise hotaru-no-hikari, und auch im Ungarischen wird es ebenfalls gesungen zu Zeiten der Veränderung und der rites de passage. Allen Texten ist über die Sprachgrenzen gemein, dass sich in die Traurigkeit über den bevorstehenden Abschied die Hoffnung und die Freude auf ein Wiedersehen mischen. Am Ende einer jeden Last Night of the Proms, wenn das Licht in der Royal Albert Hall bereits eingeschaltet ist und das Orchester verstummt, stimmen die Gäste Auld lang syne an, den besonderen Moment halten wollend.

Auf YouTube sind zahllose Versionen dieses Klassikers zu finden und zu hören. Besonders eine A-Capella-Aufnahme der Choral Scholars des University College Dublin sticht hervor. Dieser gemischte Chor aus jungen Frauen und Männern singt nicht nur technisch sauber im Wechselspiel der hohen und tiefen Stimmen, sondern gibt der getragenen Melodie mit dem wehmütigen Text auch den notwendigen Ernst, ohne zu sentimental zu werden. Den Sängerinnen und Sängern gelingt es, die Melancholie des Schmerzes des Abschieds und des Verlustes glaubwürdig vorzutragen – ungeachtet des Umstandes, dass sie wahrscheinlich in ihren noch jungen Leben diese Erfahrungen nur sporadisch gemacht haben werden. Drei Millionen Aufrufe in zwei Jahren sind ein deutliches Kompliment.

Die Formel Adieu, mundartlich zu Ade minimiert und noch lautmalerisch im nordischen Tschüss erahnbar, lässt sich mit Zu Gott oder Gott befohlen übersetzen. Damit ist gemeint, dass sich über die Dauer der Trennung die andere unter Gottes Schutz wissen möge; diesen Wunsch und diese Hoffnung gibt man einander auf den Weg in der dunklen Ahnung, dass die aktuelle Begegnung auch die letzte sein könnte. In der deutschen Version von Auld lang syne wird daraus: „Wir ruhen all in Gottes Hand, lebt wohl auf Wiedersehen.“ Je nach Kontext kann Adieu auch das Ende einer menschlichen Beziehung andeuten, deren Fortsetzung nun an Gott hängt. Oder sie bezieht die gegenwärtig Abwesenden in die Gedanken und Gebete ein, an ein Wiedersehen glaubend.

Die Fastenzeit steuert langsam auf ihren Höhepunkt, die Karwoche zu. In diesen Heiligen Tagen von Palmsonntag bis Karfreitag werden von der Kirche die Passion Christi, sein Leiden und sein qualvolles Sterben am Kreuz rituell beschworen, bevor dann zu Ostern die Auferstehung gefeiert wird. Das Geheimnis des christlichen Glaubens, im Hochgebet einer jeden Messe deklamiert, lautet, dass der Tod nicht das Ende ist, sondern der unvermeidbare Durchgang zu etwas unfassbar Größerem. Der leibliche Tod ist im ewigen Reich Gottes aufgehoben, davon künden das Evangelium und die katholische Liturgie. So hat Kerstin die Hoffnung, dass ihr Abschied von Gottfried ein irdischer sein wird, und kein endgültiger. Die Erinnerungen an gemeinsame Stunden, die er ihr hinterlässt, bewahrt sie in ihrem Herzen und lädt sie über die Musik in ihr Leben. Das Vergangene ist nicht vergessen, der Abwesende ist nicht fort: „We’ll take a cup of kindness yet for auld lang syne.“

Beim Hören und Mitsingen dieses Liedes kommen Kerstin unweigerlich die Tränen, die Musik bringt Emotionen rein körperlich zum Ausdruck, wo die Worte im Beschreiben verharren. In den Tönen spürt sie so viel von einer universalen Liebe und Zärtlichkeit, dass auch für sie etwas davon übrig ist. Es scheint das Anrühren im Moment des Verlustes zu brauchen, um dem Leben und seinem Fluss zu vertrauen, erlittenen Beschädigungen zum Trotz. Der Weg zur Freiheit führt nicht über den Sarkasmus, sondern über die Selbstannahme. Wenn sie parallel zum Chor des University College Dublin mit voller Stimme in die Melodie einfällt, fühlt sie sich gesungen, sie wird Teil eines Bandes der Liebe, das die Welt halten und heilen kann. Bis zum eigenen Ende.