Aids

  Wie andere Krankheiten, die ein Gefühl der Scham erzeugen, ist Aids oft ein Geheimnis, aber eines des Patienten. Eine Krebsdiagnose wurde dem Patienten häufig von seinen Angehörigen verschwiegen; eine Aids-Diagnose wird mindestens genauso häufig den Angehörigen vom Patienten verschwiegen. – Susan Sontag, Aids und seine Metaphern

Wenn Sascha mit ihrem Transsein hadert, was aufgrund ihrer Einsamkeit und ihrer Depressionen andauernd geschieht, sagt sie sich, dass sie als schwuler Mann wohl ein besseres Leben gehabt hätte. Sie respektive er hätte dann Energie, Zeit und Zielstrebigkeit auf ein Studium verwenden können und wäre Anwalt oder Architekt geworden. Er hätte nach Ausschweifungen in jungen Jahren einen Partner gefunden und ein monogames Leben mit der Option auf Glück und Liebe geführt. Und hätte im Alter sogar von der zunehmenden Liberalisierung des geschlechtlichen und sexuellen Lebens abseits der Heteronorm profitiert. Aber ach, als schwuler Mann wäre Sascha, geboren 1965, ohne Wissen und Vorsicht, aber voller Lust an die seinerzeit neue geheimnisvolle Krankheit namens Aids geraten. Er hätte sich womöglich mit HIV infiziert und wäre elendig krepiert, ohne 30 Jahre alt geworden zu sein.

Die ersten später sogenannten Aids-Fälle wurden 1980 in New York und San Francisco beschrieben, in Deutschland und dem übrigen Westeuropa sowie im Afrika der Subsahara um 1982. Im Jahr 1983 wurde das Human Immunodeficiency Virus (HIV) als Auslöser einer Aids-Erkrankung im Labor nachgewiesen. Das Virus wird über Blut, Sperma und Vaginalsekret weitergegeben, eine präventive Impfung sowie eine Therapie, die es aus dem Körper verschwinden ließe, gibt es bis heute nicht. Das Virus zerstört nach einer Latenzzeit, die nach erfolgter Infektion über Jahre dauern kann, sukzessive das Immunsystem des befallenen Organismus, der in der Folge an sich harmlosen Erkrankungen schutzlos ausgeliefert ist. Pilze und Bakterien siedeln im Magen und der Speiseröhre, hohes Fieber geht mit Gewichtsverlust einher, eine Hepatitis ist ebenso möglich wie ein Lymphdrüsenkrebs, nach Jahren droht eine Demenz. Am Ende des Vollbildes Aids steht oft eine Lungenentzündung, an der die Patienten sterben.

In den 1980er Jahren konnten die Ärzte den meist jungen Patienten nur hilflos beim qualvollen Sterben zusehen, Behandlungsversuche mit dem Krebsmedikament AZT sowie Bestrahlungen vorhandener Tumoren führten zu keiner kausalen Besserung und schwächten die Körper zusätzlich. Erst 1993 wurde der Krankheitskomplex mit der sogenannten Kombinationstherapie behandelbar, die anfangs beträchtlichen Nebenwirkungen gingen mit der nächsten Generation der Präparate mehr und mehr zurück. Ziel dieser Therapie, mit der möglichst umgehend nach dem Nachweis der Infektion begonnen werden sollte, ist die Senkung der Viruslast im Blut, damit es gar nicht erst zu einer Schädigung des Immunsystems komme. Heute ist eine HIV-Infektion (zumindest in den reichen Industrienationen des globalen Nordens) eine chronische Erkrankung, die bei frühzeitiger und konsequenter Therapie ein weitgehend normales, beschwerdearmes Leben erlaubt.

Mitte der 1980er Jahre, dem mutmaßlichen Zeitraum für Saschas Coming-out als schwuler Mann, wurde die Szene durch erste Berichte in der Publikumspresse verunsichert. Dass sich in den USA und Europa vor allem Schwule ansteckten, ließ sich auf die unter ihnen weit verbreitete Promiskuität samt der Bereitschaft zu ungeschütztem Analverkehr mit unbemerkten Blutungen zurückführen. Aids wirkte hier als unfreiwilliger Marker der Perversion, das leuchtende Kaposi-Sarkom wurde zum Stigma. Der ungarische Dermatologe Moritz Kaposi (1837 bis 1902) hatte diesen schmerzlosen Hautkrebs, der in fingernagelgroßen Effloreszenzen auftritt, als erster klinisch beschrieben. Das Kaposi-Sarkom ist dunkelrot bis lila gefärbt und steht plaque- und walzenartig hervor. Es befällt zunächst die Extremitäten und den Torso, sodann die Schleimhäute des Mundes und des Darmes, schließlich die inneren Organe, die Knochen und das Hirn. Dieser seltene Krebs trat ab Anfang der 1980er Jahre gehäuft bei Schwulen auf und wurde als ein Symptom von Aids identifiziert.

Die sensiblen Portraits von Ikarus (1965 bis 1992, bürgerlich Thomas Passarge, Student der Luft- und Raumfahrttechnik), Ende der 1980er Jahre von der Fotografin Ines de Nil aufgenommen, sind heute noch auf den Webseiten der Deutschen Aids-Hilfe (DAH) zu finden. Eines zeigt Ikarus, mit traurigen großen Augen in die Kamera blickend, eine Andeutung eines Lächelns auf den schmalen Lippen. Die Haare sind zum Irokesen geschoren, auf der Stirn und den Wangen sowie auf den nackten Armen leuchten die absichtlich nicht überschminkten Kaposi-Flecken, in jenen Tagen der inoffizielle Aids-Ausweis. Ikarus trägt ein ärmelloses T-Shirt, auf dem die Anzahl der noch verbliebenen Helferzellen aufgedruckt ist. Der junge zierliche Mann wirkt scheu und verletzt, er blickt seiner Krankheit ins Gesicht und gibt ihr seines. Die Hände sind auf Taillenhöhe ineinandergelegt, als wollten sie den erschöpften Körper schützen.

Ein anderes Foto darf als sinnlicher Akt bezeichnet werden. Ikarus ist im Halbprofil zu sehen, die Hände im Rücken verschränkt, der Kopf gesenkt, der Blick geht über das schmale Brustbein und den Nabel zum umhaarten Genital. Die Pose männlicher Schönheit ist unbedingt klassisch zu nennen, wären nicht die dunklen Flatschen des Kaposi-Sarkoms, die den Körper markieren und andere Männer auf Distanz halten. In der auf Attraktivität und Gesundheit geeichten schwulen Szene mit ihrer ausdifferenzierten sexuellen Infrastruktur der Bars, Klappen, Saunen und Darkrooms bedeutet sichtbares Aids das Ende jeder Interaktion. Ikarus, mit Mitte 20 in der Blüte seiner Jahre und bereits vom Tod gerufen, mustert versonnen seinen entstellten Leib, den niemand mehr begehrt. Diese Motive wurden später Teil einer Kampagne gegen die Ausgrenzung Aids-Kranker.

Sascha begann 1989 mit der Einnahme synthetischer Östrogene, 1991 erfolgte die chirurgische Zurichtung des Genitals in Richtung Neovulva. 1992, dem Jahr, als Ikarus starb, waren bereits alle amtlichen Papiere offiziell auf Saschas neuen weiblichen Namen umgeschrieben, 1993 wurde das geisteswissenschaftliche Studium mit dem Diplom abgeschlossen. Sascha glaubte anfangs, das innere Erleben als „weiblich“ sei ausreichend, um von der Gesellschaft als Frau akzeptiert zu werden. In den 1990er Jahren wurde er/sie eines Schlechteren belehrt: In der Welt der Transfrauen zählt allein die feminine Optik, darin ist sie vice versa der Welt der Schwulen mit ihrem Jugendwahn und Fitnesskult eng verwandt. Eine Transfrau, die wie Sascha nicht den weiblichen Normen genügt, wird keinesfalls das Leben einer Frau führen, sondern das Leben eines Schatten, eines Kastraten, eines Perversen, eines Kranken. Er/sie wird keinen Partner finden, wird immer wieder Probleme im Arbeitsleben bekommen, die Mobilität ist stark eingeschränkt, soziale Kontakte bestehen kaum, Hohn und Spott bis hin zur physischen Gewalt sind Teil des Alltags.

Anfangs glaubte Sascha, dass sich derlei Schwierigkeiten mit der Zeit auswüchsen, dass am Ende der nachholenden Pubertät eine verspätete Frau stünde. Seine Realität sieht unbemannt aus. Er hört von Bekannten permanent, wie eloquent, gebildet, unterhaltsam und witzig er sei; niemand aber sagt ihm, „sie“ sei attraktiv, reizend, weiblich oder sexy. Wenn Sascha sich im Spiegel betrachtet, sieht er keine Frau, sondern einen traurigen Clown. Eine Welle der Scham steigt ihm ins Gesicht, er muss den Blick abwenden, weil er sein Antlitz nicht aushält. Das Haar ist mit Ende 50 nach wie vor voll und mattbraun, regelmäßige Friseurbesuche kaschieren das grassierende Friedhofsblond. Die Haut ist noch immer seidig und gepflegt, trocken zwar, aber faltenfrei; hier profitiert er von der Dicke seiner Epidermis in Kombination mit Östrogenen. Der Leib ist schlank und in Maßen trainiert, die vegetarische Kost tut ihr Gutes. Allein, ein Frauenkörper sieht anders aus. Hinzu kommt eine prominente Narbe am Hals als Ergebnis einer Operation. Was für Ikarus sein Kaposi war, ist für Sascha das violette Keloid – die Anderen wenden sich angewidert ab.

Sascha weiß im Stillen, dass er nie eine Wahl hatte: Er hat sich nicht für die Transidentität und nicht gegen das Schwulsein entschieden. Die Krankheit eines Onkels hieß Schizophrenie, sie hat diesen in jungen Jahren gepackt und ihn vierzig Jahre in der Klinik verschimmeln lassen, ohne Beruf und Familie. Saschas Krankheit heißt Transidentität, sie hat seine besten Jahre verschandelt und ihn als Monstrum zu lebenslangem Alleinsein verurteilt, das seine Existenz nur mit Drogen aushält. Wenn Sascha auf der Straße junge Männer sieht, fühlt er sich hoffnungslos gereizt von ihren elastischen Körpern voller maskuliner Eleganz und Kraft. Ihnen bleibt der Horror von Aids erspart, dank der PrEP können die Raver von heute nächtelang durchtanzen und schlafen, mit wem auch immer sie wollen. Ihre Anmut wird nicht von einem tödlichen Virus verwüstet, sondern ganz trivial vom Alter. Anders als Ikarus hat Sascha nun das Lebensstadium erreicht, wo auf Alter und Verfall nur mehr Resignation als Antwort gegeben werden kann.

Das Tückische an Aids, wie auch der Syphilis, ist die Übertragung auf sexuellem Wege. Im Moment der höchsten körperlichen Intimität zweier Menschen wird ein Krankheitserreger mitgeteilt, der seinen Wirt langsam vernichtet. Die frühe Strategie der Aids-Hilfen zielte auf die Verwendung von Kondomen, um mit der Latexbarriere die Verbreitung des HI-Virus zu stoppen, ohne vollständig auf Sex zu verzichten. Eine Zeitlang führte Sascha leutselig Kondome mit sich, um für den Fall eines Koitus gewappnet zu sein. Doch kein Mann wandte sich ihm zu; den Heteros war er zu wenig Frau, den Schwulen zu amputiert. Er hat sich damit arrangiert, dass ihn keine fremde Hand sinnlich berührt und erregt; er hat nolens volens gelernt, zu kompensieren, zu fantasieren und zu sublimieren. Er hat schwule Freunde über Jahre an Aids sterben sehen, und doch hat er ihnen neidisch ins Grab hinterherrufen mögen: Du warst wenigstens gewollt! Du hast geliebt!

Die Geschichte von Aids kennt das Phänomen der Langzeitüberlebenden. Es gibt Patienten, die sich vor Jahrzehnten mit HIV angesteckt haben und bis heute, teils ohne jede Medikation, keine Symptome von Aids entwickeln, ohne dass die Medizin wüsste, warum. Möglicherweise ist Aids im Jahr 2030 Geschichte, wenn es bis dahin gelingt, mit einer Genschere den Bauplan des HI-Virus aus dem Erbgut der infizierten Zelle herauszuschneiden. Und wer weiß, vielleicht lässt sich einst durch Schwangerschaftsdiagnostik eine später drohende Transidentität bereits im Mutterleib identifizieren und gentechnisch ausradieren. Diese Perspektive kommt für Sascha zu spät, er ist ein Überlebender mit einer Restlaufzeit von vielleicht 25 Jahren. Er wird zur ersten Patientengeneration gehören, bei der die Langzeitfolgen der Gaben externer Hormone beobachtet und analysiert werden könnten. Ein schwules Leben, in Gottes Namen das einer Drag Queen, wird ihm dadurch nicht geschenkt, seine Geschlechtslosigkeit bekäme allenfalls wissenschaftliche Weihen. Ironischen Trost spendet allein der seinerzeit gewählte Name: Sascha ist im Russischen ein Kosename sowohl für Frauen als auch für Männer.