Algorithmus

  Die Zukunft, wie sie einst ausgemalt wurde, ist nie die Zukunft, die sich tatsächlich einstellt. Wir neigen dazu, jene Technologien zu überschätzen, die für uns vollständig sichtbar und Teil unserer Vorstellungswelt geworden sind, erweisen uns jedoch als kläglich unfähig, uns ihre sozialen Konsequenzen vorzustellen. – Helga Nowotny

Der Kluge, das etymologische Wörterbuch der deutschen Sprache, übersetzt den „Algorithmus“ mit einem „Berechnungsverfahren“. Der Begriff ist dem mittellateinischen algorismus entlehnt, das das Rechnen im dekadischen Zahlensystem und damit die Grundrechenarten bezeichnet. Das Wort geht laut Kluge auf den Beinamen Al-Hwarizmi eines arabischen Mathematikers aus dem 9. Jahrhundert zurück, dessen verschollenes Lehrbuch die arabischen Ziffern in Europa bekanntmachte. Im heutigen Jargon der Informatik ist ein Algorithmus eine komplexe Kette aufeinander folgender Wenn/Dann-Entscheidungen innerhalb eines Systems. Abstrakter formuliert, meint der Algorithmus das Abarbeiten mathematischer Befehle durch den Prozessor, in Abhängigkeit der zugrunde liegenden maschinenlesbaren Daten.

Was sprachlich hermetisch klingt, ist längst gelebter Alltag im Leben der Menschen, sobald sie einen Computer im Internet benutzen. Jede Produktempfehlung auf der Seite eines global agierenden Versandhändlers, jeder Vorschlag auf der Seite einer Videoplattform, jedes denkbare Reiseziel auf der Seite einer Fluggesellschaft, jede Nachricht in einem Debattenforum, natürlich die Vorschläge auf Dating-Seiten, selbst die Anordnung der Artikel auf der Startseite der digitalen Fassung einer Tageszeitung ist das Ergebnis der Interpretation der bisherigen Nutzerdaten im Internet, mithin eines Algorithmus. Der Nutzer bekommt das digitale Angebot, von dem der Algorithmus meint, das es zu seinen bisher bekannten Neigungen, Vorlieben, Einstellungen passt. Je mehr digitale Daten dem Algorithmus bei der Analyse des Such- und Leseverhaltens eines gegebenen Nutzers vorliegen, umso detailliert und präziser werden die neuen Angebote beziehungsweise Vorhersagen.

Heutige Computer und ihre Mikroprozessoren, zusammengeschaltet in riesigen Rechenzentren, erlauben die Abarbeitung eines Algorithmus und das Kommunizieren seines Ergebnisses in Sekundenbruchteilen. Das Skript dieses Prozesses ist von Menschen erdacht und geschrieben, das Lernen im Vollzug geschieht jedoch automatisch. Morgen ist der Algorithmus, menschlich formuliert, klüger und genauer als heute. Für dieses maschinelle Lernen hat sich der Begriff der Künstlichen Intelligenz (KI) eingebürgert. Die damit gemeinten Rechenoperationen vollziehen sich in einem Tempo, für das der Mensch nur noch mathematische Dimensionen heranziehen kann, jedoch keine Vorstellung mehr, die der humanen Alltagserfahrung entspräche. Manche Beobachter stellen sich die Frage, ob die Maschine mehr ist als ein nüchterner nimmermüder Rechner, ob sie nicht vielleicht auch über ein Bewusstsein ihrer selbst verfüge.

Die Arbeit der Computerwissenschaftler der vergangenen Jahrzehnte auf dem Feld der Künstlichen Intelligenz fand in der letzten Woche ihren Niederschlag in der Verleihung der Nobelpreise. So erhielt Geoffrey Hinton (Jahrgang 1947) den Nobelpreis für Physik, der Kanadier legte die theoretischen Grundlagen für das heutige maschinelle Lernen in neuronalen Netzen. Hinton hat seine Arbeit beim Internetkonzern Google mittlerweile aufgegeben und zählt heute zu den prominenten Warnern vor einer unbändigen Künstlichen Intelligenz. Demis Hassabis (Jahrgang 1976) teilt sich den Nobelpreis für Chemie, der Brite erhielt diese Auszeichnung für seine Arbeiten an dem Gebiet der Rekonstruktion der Struktur der Proteine. Er hatte 2010 das KI-Start-up DeepMind mitgegründet, das vier Jahre später von Google übernommen wurde, für angeblich 400 Mio. Dollar.

Hassabis war in seiner Jugend ein passabler Schachspieler, bevor er sich nach der Schule entschied, Informatik in Cambridge zu studieren; promoviert wurde er in kognitiver Neurowissenschaft. Bei DeepMind gehörte er zu den Konzeptoren und Programmierern des Algorithmus AlphaGo, der 2016 erstmals einen Weltklassespieler im extrem komplizierten Spiel Go schlagen konnte. Das Nachfolgeprogramm AlphaZero ist die stärkste Software in der Geschichte der Schachcomputer. Bisherige Schachprogramme, paradigmatisch Deep Blue von IBM, das 1997 den amtierenden Weltmeister Garri Kasparow in einem Match unter Turnierbedingungen schlagen konnte, arbeiten nach der Brute Force-Methode, die ihr immens schnelles Rechnen begünstigt. Das Programm rechnet in jeder gegebenen Stellung jeden denkbaren legalen Zug in definierter Tiefe, so unsinnig er einem menschlichen Spieler auch erscheinen mag. Sein „Wissen“ bezieht das Programm aus einer Datenbank, die Millionen gespielter Partien enthält; hier gleicht es bisher zum Erfolg führende Züge ab und wendet sie auf die gegebene Position an. Es bedient sich also eines Gedächtnisses, zu dessen Entstehung es nichts beigetragen hat.

AlphaZero hingegen geht vor wie ein Kind am Anfang des Denkens und des damit verbundenen Spracherwerbs, er probiert, verwirft, erneuert, schreitet voran. Dem Algorithmus werden die Regeln und das Ziel des Schachs erklärt, jegliches Wissen über Eröffnungen und das Endspiel, über Strategie und Taktik, werden ihm hingegen vorenthalten. AlphaZero lernte Schach im Spiel gegen sich selbst, kolportiert wurden vier Partien pro Sekunde. Am Mittag des Schöpfungstages hatte das morgens nackt gestartete Programm die Stärke eines Großmeisters, am Abend übertraf es alle bisher bekannten Programme. Dabei geht AlphaZero rational und ökonomisch vor; es trifft in gegebener Stellung eine Vorauswahl möglicher Kandidatenzüge und berechnet nur diese. Wie ein Großmeister mit Stellungsgefühl und Erfahrung sortiert er die meisten möglichen, aber randständigen oder gar schädlichen Züge vorab aus. Dieser schonende Umgang mit eigenen Ressourcen ist ein Ausweis eigenständigen Lernens.

Das königliche Spiel des Schachs ist seit jeher ein bevorzugtes Objekt für Informatiker, die Funktion und die Kraft ihrer Programme zu demonstrieren. In der Tat eignet es sich mit seiner Regelbasiertheit, den für alle Beteiligten offen vorliegenden Informationen und dem Ausschluss eines Zufalls bestens als Testfeld, gewaltige Datenmengen in Form möglicher Züge strukturiert zu verarbeiten und danach Entscheidungen herbeizuführen. Die Apologeten Künstlicher Intelligenz mussten sich bislang die skeptische Frage gefallen lassen, worin der konkrete Nutzen der dahinter stehenden mathematischen Modelle bestehe, wie das Transponieren des Algorithmus auf andere Zusammenhänge, in eine andere Datenumgebung funktionieren könne. Eine Antwort lieferte im November 2022 das Programm ChatGPT des Start-ups Open AI, das im Handumdrehen Texte aller Art vom Sonett im Stile Shakespeares bis zur Einkaufsliste für den Kindergeburtstag formuliert.

Während ChatGPT erkennbar spektakulär auf die Endnutzer zielt, bietet AlphaFold aus dem Hause DeepMind, die Lösung eines alten Problems der Biologie und der Medizin. 2018 erstmals vorgestellt und 2020 wie 2024 aktualisiert, liefert das Programm auf der Basis neuronaler Netze präzise dreidimensionale Modelle der Struktur der Proteine – in wenigen Tagen, während ganze Labore mit hochspezialisierten Experten für die Analyse lediglich eines Proteins Jahre brauchten. Das Wissen über die Struktur respektive die Faltung konkreter Proteine erweitert das Verstehen der Funktionsweise menschlicher Zellen kolossal und spielt eine große Rolle bei der Erforschung von Krankheiten und der Entwicklung neuer Medikamente. Einzelnen Professoren der Biologie und der Chemie soll nach der Präsentation von AlphaFold der Stoßseufzer entfahren sein, der Algorithmus habe sie nun von einem Tag zum anderen überflüssig gemacht.

Im Juni dieses Jahres warnte der Wagniskapitalgeber Sequoia vor dem Platzen einer KI-Blase. So seien in den vergangenen Jahren weltweit etwa 600 Mrd. Dollar privates Kapital in die Forschung und die Entwicklung von KI-Algorithmen und dazu gehöriger Recheninfrastruktur geflossen, ohne dass die damit finanzierten Unternehmen eine Antwort auf die Frage hätten, wie sich diese schwindelerregende Summe refinanzieren ließe – kurzum, es fehle der notorisch lautsprecherischen KI-Branche an Geschäftsmodellen für künftigen Umsatz und Profit. Tatsächlich ist es so, dass das Wettrennen der großen Technologiefirmen von Google über Microsoft und Meta bis zu Tencent mit ihren allgemeinen Sprachmodellen riskante Wetten auf die Zukunft sind. Die gewaltigen Investitionen dieser Konzerne in KI, die längst jene der Universitäten und des Militärs in den Schatten stellen, dienen primär der Besetzung eines emergenten Marktes; sie wollen die Ersten sein, längst bevor es etwas zu verkaufen gibt. Der Algorithmus AlphaFold nun stößt die Tür zum Gesundheitsmarkt weit auf.

Der neben dem Fortschrittsoptimismus ebenfalls artikulierten Sorge vor einer KI, die mächtiger werden könne als der sie programmierende Mensch, begegnen die staatlichen Regierungen mit Regulierung. Sie wollen den Konzernen Vorschriften machen, zu welchen Zwecken, in welchen Kontexten und mit welchen Folgen sie ihre Algorithmen einsetzen. Ein hehres Ziel, das angesichts des Tempos der technologischen Entwicklung rührend antiquiert wirkt. Vielmehr ist es so, dass die Menschheit gerade eine weitere Kränkung erlebt. Die Astronomie der frühen Neuzeit sagte dem Menschen, nicht die Erde, vielmehr die Sonne sei der Mittelpunkt des Universums, um den sich die Planeten drehten; die Biologie des 19. Jahrhunderts erklärte den Menschen zum vorläufigen Endresultat der Evolution und verwarf die Vorstellung, er sei die Krone der Schöpfung; die Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts zeigte, dass der Mensch nicht von rationalen Argumenten gesteuert sei, sondern von unbewussten, meist sexuell konnotierten Affekten wie Gier, Verlangen, Neid und Egoismus. Und nun kommt die Informatik und demonstriert theoretisch wie empirisch, dass der Algorithmus Daten schneller, billiger und genauer verarbeiten kann als das menschliche Gehirn. Doch ein Trost bleibt vorerst: Bisher wurde noch kein Algorithmus von einem Algorithmus programmiert, der Mensch behält zumindest symbolisch das letzte Wort.