Aktivismus ist seit jeher das Metier der Jungen. Sie protestieren gegen die schale Politik, prangern ungerechte ökonomische Verhältnisse an, vernetzen sich, verfassen Pamphlete, organisieren Demos und ordnen ihr Leben analog wie digital ihren hehren Zielen unter. Doch was geschieht mit dem Idealismus, wenn seine Träger in die Jahre kommen, angestrebte Veränderungen aber ausbleiben? Das neue Buch „Spent“ der US-amerikanischen Comiczeichnerin Alison Bechdel stellt genau diese Frage am Beispiel einer älteren Frau, die wie die Autorin als Zeichnerin auf dem Land lebt und zu spätem Ruhm kommt. Ihr wachsender beruflicher Erfolg erlaubt es ihr, einen komfortablen Lebensstil zu pflegen; die quälende linke Frage, wie dies verantwortungsvoll und demütig geschehen könnte, lässt sie dabei nicht los.
Alison Bechdel wurde 1960 in eine katholische Familie geboren und wuchs im ländlichen Pennsylvania auf, beide Eltern arbeiteten als Lehrer und führten nebenbei ein Bestattungsinstitut. Nach ihrem College-Abschluss lebte sie für einige Jahre in New York City, wo sie mit dem Zeichnen von Comics begann, die in der lesbischen Subkultur spielen. Die lose Reihe „Dykes to watch out for“ wurde in einschlägigen Magazinen veröffentlicht und verschaffte Bechdel den Rang einer Kultautorin. Auf sie geht der sogenannte Bechdel-Test zurück, mit dem sich spielerisch überprüfen lässt, ob fiktionale Filme weibliche Charaktere angemessen abbilden. Das ist laut seiner Namensgeberin dann der Fall, wenn sich zwei Frauen in Hauptrollen länger miteinander unterhalten, und zwar nicht über Männer.
Im Jahr 2006 landete sie mit ihrer „Fun home“ genannten Familiengeschichte einen Überraschungserfolg auf dem allgemeinen Buchmarkt. Während in diesem Werk Bechdels vermutlich schwuler Vater im Mittelpunkt steht, geht es in „Are you my mother?“ von 2012 um die Wünsche und Träume ihrer Mutter. 2021 liefert Bechdel eine humorvolle Analyse ihrer Fitness, die sie Superkraft nennt; sie wundert sich über die Trends der Sportindustrie, die Pazifisten dazu bringt, für Boot Camps zu bezahlen und emanzipierte Frauen, an einer Stange zu tanzen. Ihr bislang jüngstes Buch „Spent“ von 2025 ist eine Mischung aus Altersfazit und der Reflexion ihrer Arbeit in einer Welt, die in einer Klimakrise steckt und in der autoritäre Tendenzen gerade in den USA bedenkliche Ausmaße annehmen. Alison Bechdel lebt mit ihrer Frau und mehreren Katzen auf einer Farm in Vermont.
In „Spent“ tauchen Figuren wieder auf, die seit Jahrzehnten zum Bechdel-Kosmos gehören. Ginger und Lois leben auch noch mit 60 Jahren in einer WG, mit ihren Partnerinnen in eigenen Wohnungen. Sparrow und Stuart sind Teil der Hausgemeinschaft, sie müssen mit dem Erwachsenwerden des eigenen Kindes sowie seinem Auszug klarkommen. Die Haare sind grauweiß geworden, die Rücken bebeugter, im Gesicht finden sich Falten und am Bauchnabel Speck. Die eigentliche Chronistin der Langzeitgruppe ist Mo, offensichtlich das Alter Ego der Zeichnerin, die sich ständig über die harten kapitalistischen Verhältnisse grämt und nach Wegen sucht, im Einklang mit der Natur und der Gesellschaft zu leben und zu konsumieren. Zur regelmäßigen Farce werden ihre politisch korrekten Selbstvorwürfe wegen ihrer unterstellten Privilegien, heimlich sehnt sich die unverdrossene Aktivistin nach einem Lebensstil, der über den einer Dauerstudentin hinausgeht.
Typisch für die Bechdel-Comics ist ihr Eingebettetsein in die jeweiligen politischen und sozialen Debatten. Präsident Clintons Affaire mit der Praktikantin Monica Lewinsky wird ebenso thematisiert wie die Anschläge auf das World Trade Center, Michael Jackson und George W. Bush haben ebenfalls ihre Aufritte wie das Covid-Virus, ChatGPT und Black Lives Matter. Die Gefahr des übergroßen Versandhändlers Amazon für den lokalen Buchladen wird lebhaft beschworen, die grotesken theoretischen Verrenkungen der Queer Studies werden beinahe zärtlich parodiert. Drag King Shows werden gefeiert, Feministinnen diskutieren kritisch über die Anwesenheit von Transfrauen in Frauenräumen, zwei Lesben ziehen einen kleinen Jungen groß, eine vegetarische Ernährung ist ebenso selbstverständlich wie der Einkauf im Bioladen, Training im Yoga-Studio und das Fahren eines E-Autos, Therapiesitzungen und polyamouröse Affairen. So wird die Reihe „Dykes to watch out for“ auch zum Protokoll der linksliberalen Mittelklasse der US-Ostküste.
Dabei ist Bechdels Stärke ganz klar das Zeichnen. Ihre frühen Skizzen aus den 1980er Jahren haben noch etwas übermäßig Spitzes und Zweidimensionales, Anfang der 1990er Jahre hat sie ihren treffsicheren Stil gefunden, die Figuren mit den Kugelaugen werden sowohl von der Darstellung als auch vom Charakter runder und komplexer, die kolorierten Szenen haben die Anmutung von Filmfotos. Bei ihren sogenannten Novels, mit denen sie sich dem literarischen Genre der Memoiren zuwendet, verirrt sich Bechdel allerdings in intellektuellen Labyrinthen. Die Geschichten haben durchaus ihren Spannungsbogen und tragen durch das ganze Buch, allerdings kommt der ideologische Überbau mit Virginia Woolf, Donald Woods Winnicott und Karl Marx reichlich bemüht daher. Bitter in „Spent“ ist der Preis des wachsenden ökonomischen Erfolgs der Autorin und Hauptfigur, der in ihrem Freundeskreis für Gefühle der Missgunst und des Neides sorgt. Der Aufstieg der Nischenautorin zum Liebling der New York Times wird ihr zur Belastungsprobe ihres Milieus.
Die ewige Frage der Memoirenliteratur ist jene nach dem Anteil der Fiktion an den arrangierten Fakten. Seit Sigmund Freud und Marcel Proust ist bekannt, wie selektiv sich die Erinnernde über die Vergangenheit hermacht und diese entlang eigener offener wie uneingestandener Sehnsüchte nacherzählt – Objektivität ist hierbei nicht zu erwarten, wie es auch der inflationär zitierte Begriff der Autofiktion nahelegt. Bechdel erzählt einen Teil ihrer Lebensgeschichte für die anderen und für sich selbst; was dabei verkürzt, übertrieben, verschwunden oder schlicht erfunden ist, weiß nur sie. Für die Leserin ist die Frage zweitrangig, solange die Geschichte stimmig und witzig erzählt wird. Das gelingt Bechdel mit ihrer Tuschefeder eindrucksvoll, die Worte in den Sprechblasen der Zeichnungen voller Tiefenschärfe kommen daher wie die Untertitel eines fremdsprachigen Films.
Was Alison Bechdel für Neuengland ist, ist Ralf König für die Bundesrepublik. Boomer wie sie, ebenfalls Jahrgang 1960, begann auch König als teilnehmender Beobachter der Szene, die Knollennasen seiner schwulen Protagonisten wurden legendär. Auch König reüssierte in der breiten Kultur und wurde im Feuilleton gelobt, auch seine Novellen wie „Der bewegte Mann“ wurden erfolgreich für das Kino adaptiert. Das homosexuelle Begehren wird bei Bechdel wie König so richtig wie beiläufig inszeniert, es muss nicht begründet oder gar gerechtfertigt werden. Dass eine lesbische Zeichnerin und ein schwuler Zeichner schließlich bei großen Publikumsverlagen veröffentlichen und vom explizit Sexuellen ihrer Geschichten kein Jota zurücknehmen, ist ein schönes Indiz sozialer Gewöhnung. Möge das für die kommende Generation der Schwulen, Lesben und Transidenten ebenfalls gelten, für die Aktivisten wie für die Chronisten.