Weihe uns ganz in dein Geheimnis ein. / Lass uns dich sehn im letzten Abendschein. / Herr, deine Herrlichkeit erkennen wir: / Lebend und sterbend bleiben wir in dir. – GL 325
Angesichts des religiösen Nihilismus dieser Tage gerät leicht aus dem Blick, dass sich die katholischen, orthodoxen und protestantischen Bekenntnisse in elementaren Punkten unterscheiden. So hat die katholische Kirche das Gedenken an die Toten exklusiv, der daran erinnernde Feiertag ist Allerseelen. Anfang November, wenn die Tage dunkel und neblig werden und erster Frost in der Luft liegt, besuchen die Gläubigen die Friedhöfe und gedenken in der Eucharistiefeier derjenigen, die ihnen im Leben und Sterben vorausgegangen sind. Dieser Glaube geht so weit, die Seelen der Verstorbenen für ein Gebet erreichbar zu halten, um ein mögliches Fehlverhalten auf Erden posthum zu kompensieren.
Kerstin macht sich auf den Weg zum Gottesdienst am Samstagabend, in der Hand ihr persönliches Exemplar des Gesangbuches. Der hellgraue Doppelkubus der Kirche Sankt Canisius ist nur mehr schemenhaft am Ufer des Lietzensees auszumachen, die Dunkelheit des frühen Abends hat ihn bereits geschluckt und ihn seiner leuchtenden Farbe beraubt. Nachdem sie das schwere Portal aus Massivholz aufgezogen hat und ihre Finger mit Weihwasser zum Kreuzzeichen benetzt, geht ihr Blick automatisch nach oben. Unter der Empore hängt der verbogene Kruzifixus, der als einziges Inventar der abgebrannten Vorgängerkirche hatte gerettet werden können. Kerstin geht gemessenen Schrittes zur Bank am Tabernakel, hält kurz inne und setzt sich. Die neue Organistin sitzt bereits am Manual und stimmt sich improvisierend auf die Feier ein.
Der Halbrund aus Stühlen vor dem Altar ist mäßig besetzt, als der Priester, begleitet von zwei Kerzen tragenden Ministrantinnen, einzieht und den Gottesdienst eröffnet, dabei „Wir sind nur Gast auf Erden“ (GL 505) anstimmend. Getragen von der Orgel, findet Kerstin in die Melodie hinein und kann bereits mit der ersten Strophe tonsicher mitsingen. Schräg hinter dem Altar ist ein Regal arrangiert, in dem einzelne flackernde Teelichter stehen; einige höhere Stumpen mit größeren Flammen lockern die Lichterreihe etwas auf. Nach dem Introitus lässt der Priester die versammelte Gemeinde wieder Platz nehmen, gleichzeitig wird das Deckenlicht gedimmt, sodass der Kirchenraum im Schein der Kerzen liegt. Vor dem Kerzenregal wird eine Prise Weihrauch verbrannt, dessen Schwaden bei einigen Anwesenden für Räuspern und Husten sorgen.
Der Priester geht zum Ambo, an dem eine kleine Lampe angebracht ist, die das Lesen im Halbdunkel erlaubt. Er fängt nun an, die Namen derjenigen zu verlesen, die seit dem Allerseelen des vergangenen Jahres in der Gemeinde verstorben sind. Dieser Mann, dessen flapsig-komödiantische Art Kerstin für gewöhnlich missfällt, geht nun vollends in seiner ernsten Rolle als Mahner der Toten auf. Jeden Namen liest er klar vernehmlich vor, dazu das Sterbedatum und das erreichte Lebensalter; danach kommt eine genau passende Pause, als hätte er ein akustisches Semikolon gesetzt. Jeder Name bekommt das Gewicht eines Blattes, das vom Herbstwind geschaukelt wird. Kerstin sucht bei jedem Namen ein Gesicht dazu, eine Person, eine Begegnung. Es fällt ihr auf, dass es ganz überwiegend Frauennamen sind, die verlesen werden; ein Großteil der Verstorbenen hat mit 80 aufwärts ein gesegnetes Alter erreicht. Sie sind nicht verschwunden, sie sind nun an einem anderen Ort, sie werden Teil der Tradition.
Kerstin protestiert innerlich, als nach dem Verlesen des letzten Namens das Deckenlicht zentral wieder erstrahlt, es tut ihren leicht tränenfeuchten Augen weh, nun wieder alles überdeutlich zu sehen. Die nach dem Kyrie sich anschließende Lesung (2 Makk 12,44-45) thematisiert das Sterben und den Glauben an seine Überwindung: „Hätte er nicht erwartet, daß die Gefallenen auferstehen werden, wäre es nämlich überflüssig und sinnlos gewesen, für die Toten zu beten. Auch hielt er sich den herrlichen Lohn vor Augen, der für die hinterlegt ist, die in Frömmigkeit sterben. Ein heiliger und frommer Gedanke! Darum ließ er die Toten entsühnen, damit sie von der Sünde befreit werden.“ Bei der Predigt legt der Priester diesen berührenden Text aus dem Alten Testament aus, dabei ganz auf seine gewohnten Anbiederungen an den Zeitgeist verzichtend, eine überraschende Offenbarung.
Der Tod ist der Nullpunkt des katholischen Glaubens, mit Beginn des Hochgebets nach der Wandlung wird dessen Geheimnis von der Gemeinde beschworen. Der Tod ist das Ende des irdischen Daseins, er lässt aus einem beweglichen, durchbluteten, empfindsamen und aktiven Körper schnöde Würmerkost werden. Und doch hat er nicht das letzte Wort in einer Welt, die von Gott geschaffen wurde und die er am Ende der Zeiten wiegen und bewerten wird. Der katholische Glaube wäre sinnlos, zumindest unvollständig, ohne die Annahme einer Auferstehung, einer den Verstand übersteigenden Überwindung des Todes. Sich in dieser Annahme zu üben, ist der Weg der Glaubenswirklichkeit. Wissen lässt sich planvoll erweitern, sein Wachsen lässt sich messen. Beim Glauben kann man sich nur um die Offenheit bemühen, das Unbegreifliche mit anderen Instrumenten als dem Denken an sich heran zu lassen. Credo quia absurdum, wie es die Urkirche im 2. Jahrhundert formulierte.
Nach der Kommunion und dem Schlusssegen sind die Gläubigen eingeladen, eine Kerze für einen Toten in ihrem Herzen zu entzünden und zu den bereits brennenden dazuzustellen. Kerstin reiht sich ein ins Defilee derer, die in Richtung Kerzenwand schreiten. Sie denkt intensiv an eine Kollegin, die vor zweieinhalb Jahren verstorben ist. Sie stand Kerstin in einer schwer erträglichen Situation des Mobbings am Arbeitsplatz bei und suchte mit ihr nach Lösungen. Dabei entging es Kerstin, wie schwer erkrankt Yvonne bereits war. Sie maß gerade 1 Meter 60 und hatte den rundungslosen Körper einer Präpubertierenden, ihre Kleider konnte sie in der Kinderabteilung kaufen. Erst mit der Nachricht ihres Todes erkannte Kerstin, dass der Leib ihrer Kollegin von Auszehrung kündete. Sie schämt sich noch immer dafür, diesen Zusammenhang übersehen zu haben; nun bleibt ihr nur ein Gebet, diese existentielle Einsamkeit zu bewältigen.
Schließlich öffnet sich das massige Tor und entlässt die Gläubigen in die dunkle Kälte des Abends. Der Tod, so durchfährt es Kerstin, ist keine abstrakte Größe mehr, die irgendwann auch ihr Leben beenden wird. Er hat vielmehr an Gegenwart gewonnen, ist präsent in ihren Gedanken und Gefühlen. Ihr nahender 60. Geburtstag trägt das Seine dazu bei, dass ihre Vergänglichkeit sich nun beziffern lässt: Wenn sie die Statistik bemüht, stehen ihr noch rund 25 Jahre ins Haus, ohne dass damit etwas über deren Qualität gesagt wäre. Kann man sich auf den eigenen Tod, den großen Gleichmacher, vorbereiten? Eigentlich nur dadurch, dass man täglich das Leben feiert, dafür dankt und es nicht durch Bitterkeit, Korruption, Langeweile und Zynismus beschmiert. Auch das ist ein zutiefst katholischer Gedanke, sagt sich Kerstin, während sie das Laub am Ufer des Lietzensees mit ihren tänzelnden Tritten zum Rascheln bringt.