Alter

  An sich ist es merkwürdig, daß das Altwerden, sofern es sich auf den Verlust eines früheren, eines mit Recht oder Unrecht als schöner empfundenen Zustands bezieht, erst um die Fünfzig herum so recht empfunden wird. – Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung

Sascha hat sich kürzlich länger mit Martin über das Alter ausgetauscht. Ihr Cousin wird in diesen Tagen 60, damit überschreitet er die magische Marke zwei Jahre vor ihr. Auch sie sieht sich in den Sog des Alters gezogen, der unmerklich beginnt und seine Beute nicht mehr freigibt. Statistisch gesehen steht Sascha auf der Schwelle zum letzten Drittel des Lebens, mit rund 25, vielleicht 28 Jahren kann sie noch rechnen. Allerdings ist damit nicht gesagt, in welcher Qualität sie diese verbringen wird. Ob sie eine Demenz entwickeln wird wie ihre Großmutter, ist nicht ausgemacht, wie lange sie allein wird leben können, ebenso wenig.

Das Alter ist für sie die Gewissheit zahlreicher verpasster Gelegenheiten und falscher Entscheidungen, ergänzt um körperliche Gebrechen und fehlende Zeit für einen zweiten Versuch. Marcel Proust hat in seiner „Suche nach der verlorenen Zeit“ meisterhaft formuliert, wie die Menschen sich nicht nur im Raum bewegen, dort einen Platz einnehmen und Verbindungen schaffen, sondern ihre individuelle, monströse Anwesenheit auch in der Zeit haben, wo sie sich weitaus schwindelerregender ausbreiten als im Raum. Und sie schleppen ihre Vergangenheit sichtbar mit sich herum, jedes Lorgnon kündet davon, jedes weiße Haar und alle gebeugten Rücken.

Für sie heißt das Alter auch, ihre Behinderungen zu akzeptieren, allen voran ihre Transidentität. Als sie Ende der 1980er Jahre herauskam und mit der Östrogenbehandlung anfing, ging sie davon aus, dass sie mit der Zeit schon eine Frau werde. Es dauerte Jahre, bis sie diese Chimäre durchschaute. Ein nachholender Erwerb des ersehnten Geschlechtes gegen das genetische Programm ist nach ihrer Erfahrung unmöglich, bestenfalls ist eine chirurgisch-pharmakologisch-kosmetische Annäherung an dessen Erscheinungsbild denkbar, ohne die geschlechtsspezifischen Gaben zur Empfängnis respektive Zeugung. Die Unmöglichkeit, im großen Kollektiv der Frauen aufgehoben zu werden und stattdessen als Kastrat die Erdenwege zu ziehen, ist identisch mit lebenslanger Einsamkeit.

Sie sei zum Arbeiten zu alt und für die Rente zu arm, durchfährt es sie jüngst unbarmherzig. Sie kann es sich schlicht nicht leisten, der Ruhe mehr Raum in ihrem Leben zu geben. Sascha weiß von einigen Kameradinnen aus ihrem Abiturjahrgang, die mit Mitte 50 in Rente gegangen sind. Diese Leute haben ab Mitte 20 gut verdient, waren verheiratet, haben nebenbei geerbt und ein glückliches Händchen beim Kauf von Aktien bewiesen, sodass sie nun ernten und sorglos verzehren können. Sascha hingegen hat beruflich lange prekär gelebt und konnte erst im Alter mit dem Aufbau eines kleinen Vermögens beginnen, wofür die Zeit eben nicht mehr reicht. Ihre Transidentität hat eine vernünftige Berufsausbildung verhindert und eine Liebesbeziehung auf ewig unmöglich gemacht. Ihr Alter, ohne Kinder, Partner und Besitz, ist die Summe ihres bürgerlichen Scheiterns.

Neulich hat sie ein aktuelles Bild von Madonna gesehen und war regelrecht erschrocken darüber, wie verschnitten ihr Gesicht nach diversen Operationen mittlerweile aussieht. Und dann turnt sie auf Tiktok herum, als wäre das Jahr 1984 nicht tief in der Vergangenheit versunken und als sei sie für immer Like a virgin. Sascha ist heilfroh, kein Tattoo zu haben und keine Botoxinjektion. Sie hofft darauf, dass sie würdiger altern wird als Miss Ciccone, die allerdings um ihre ausnehmende Schönheit fürchtet, die vom Alter verwüstet wird. In dieser Hinsicht hat Sascha nichts zu verlieren, während sich ihre geistigen Interessen auch solitär und mit hohen Jahren hegen lassen.

Und natürlich fragt sich Sascha, ob Transmenschen nicht anders altern, schneller vielleicht als gesunde Menschen und mit einer undurchschauten Disposition für begleitende Erkrankungen. Was passiert mit einem Körper, der 34 Jahre mit gegengeschlechtlichen Hormonen getränkt wird und der seit 32 Jahren über keine eigenen Keimdrüsen mehr verfügt und lebenslang auf Substitution angewiesen ist? Wie steht es mit der Entwicklung eines Diabetes, der Neigung zu Depressionen, der Begünstigung einer Arthrose? Bei der laufenden Debatte um Trans stehen die Alten, die auf Jahrzehnte ihres Soseins zurückblicken können, dauerhaft im Schatten, ihre Erfahrungen spielen keine Rolle für die Gemeinschaft und die medizinische Forschung. Sie sprach ihren behandelnden Arzt darauf an, doch dieser konnte ihr nur mitteilen, dass er keine Studien zu den Langzeitwirkungen einer Hormonbehandlung und einer genitaltransformierenden Operation kenne. Auch das eine Gewissheit: Sascha wird bis zum letzten Atemzug Teil eines medizinischen Experiments sein, das ohne klare Regeln, ohne realistische Zielsetzung und ohne Auswertung durchgeführt wird, vor allem ohne die Chance zur Revanche; dabei ist sie Teilnehmerin, Beobachterin und Interpretatorin zugleich.

Sie, die bereits liebe Freundinnen und ihre Mutter zu Grabe hat tragen müssen, hat kürzlich über ihre Bestattung phantasiert. Sie ist noch unentschieden, ob sie sich einäschern oder als Ganzes der Erde übergeben lassen wird. Allerdings hat sie sich bereits für ihre Grabbeigaben entschieden: Die Bibel, ein Band Proust, ein Band Kasparow und ein Band Trans sollen mit in den Sarg, mit einer solchen Wegzehrung beginnt die letzte Reise gut vorbereitet. Gegenwärtig erfreut sie sich an der Vorstellung, ihre Asche werde über der Baltischen See verstreut. Zurück zum Urelement, aus dem alles Leben hervorkam. Und ein Grab in den Wellen hätte den Vorteil, dass es nicht gepflegt werden müsste. Von wem auch, Sascha stirbt, wie sie lebt, allein.

Auf ihrer jetzigen Arbeitsstelle sieht sie sich noch bis zum Herbst 2025. Diese zweieinhalb Jahre bleiben ihr, Geld zurückzulegen und Kontakte zu einer freien Lektoratstätigkeit zu knüpfen, um dann die Metropole zu verlassen, um schließlich am Meer zu leben und zu arbeiten. Das soll ihr letzter großer Schritt auf dieser Erde werden, hat sie sich vorgenommen. Diese Entscheidung wird sie, wie jede andere in ihrem Leben auch, allein treffen. Alter heißt auch, mit der Liebe und dem Leiden nichts mehr zu tun zu haben. Über Weihnachten im Kloster hat sie einen Vorgeschmack auf das echte Alter bekommen: Im Kreise welker Frauen, die über die Feiertage nicht allein bleiben wollten und die Gesellschaft ihresgleichen suchten. Sascha hat getan, was sie konnte. Die einzige Frage, die sie Gott noch stellt, ist die nach dem Grund für ihre Transidentität. Warum muss gerade sie als geschlechtlicher Ausschuss leben? Sie ist dankbar, dass dieses Siechtum endlich ist.