Die Architektur ist eine Sozialwissenschaft. Sie generiert Schutz, Struktur und Schmuck des menschlichen Lebens und kann in ihrem Einfluss auf die Funktion der Gesellschaft nicht überschätzt werden. – Andrea Warnekros
Alvar Aalto wurde 1898 in Kuortane geboren, seinerzeit Teil des zum Russischen Reich gehörenden Großfürstentums Finnland, er wuchs im mittelfinnischen Jyväskylä in einer liberal denkenden Familie auf. Zuhause wurde Finnisch wie Schwedisch gesprochen, Alvar lernte auch passabel Deutsch. Nach seinem Abitur 1916 zog er nach Helsinki und begann an der dortigen Technischen Hochschule ein Studium der Architektur. 1918 unterbrach er während des I. Weltkrieges seine Ausbildung und kämpfte in den Reihen der konservativen „Weißen“. Nach dem Diplomabschluss seines Studiums ging er wieder nach Jyväskylä und gründete dort sein erstes Architekturbüro. 1924 heiratete er die Architektin Aino Marsio, im gleichen Jahr vollendete er das Haus der Arbeiter in Jyväskylä. 1928 unternahm das Ehepaar Aalto eine Studienreise nach Mitteleuropa, Alvar realisierte im selben Jahr das Redaktionsgebäude der Zeitung Turun Sanomat in der alten finnischen Hauptstadt Turku, das ihn schlagartig zum führenden Architekten seines Landes machte und ihm weitere Aufträge verschaffte.
1935, mittlerweile in Helsinki lebend, gründete Alvar Aalto gemeinsam mit seiner Frau und einem befreundeten Paar die bis heute existierende Firma Artek, die Möbel, Lampen, Gläser und weitere Einrichtungsgegenstände fertigt und vertreibt. 1938 baute Aalto für ein befreundetes Paar die Villa Mairea, die seinen internationalen Ruhm festigte. Während des II. Weltkriegs lebte die Familie zeitweilig in den USA, Alvar nahm eine Professur am MIT an. 1949, dem Jahr des Todes Ainos, baute Alvar den Hörsaal der Technischen Universität in Espoo. 1952, dem Jahr der Heirat mit der Architektin Elissa Mäkiniemi, schuf Alvar das Haus der Kultur in Helsinki. In den 1950er Jahren kreierte er zudem ein Etagenwohnhaus im Berliner Hansaviertel, entwarf ein Etagenwohnaus in Bremen und gewann den Wettbewerb um das Theater Essen. 1963 wurde Aalto zum Vorsitzenden der Finnischen Akademie ernannt, 1971 wurde ein Alvar Aalto Museum in Jyväskylä eröffnet, im selben Jahr schließlich wurde seine Finlandia-Halle in Helsinki eingeweiht. Im Jahr 1976 starb Alvar Aalto in der finnischen Hauptstadt, wo er auch begraben wurde.
Alvar Aalto hat in den über 50 Jahren seines architektonischen Schaffens die ganze Palette an Gebäuden abgebildet. Er baute großzügig dimensionierte Villen und Etagenhäuser im sozialen Wohnungsbau, er entwarf Kirchen und Bibliotheken, Verwaltungsgebäude und Sanatorien, Konzerthäuser und Fabrikanlagen. Dabei ließ er sich stets von einer idealistischen Einstellung leiten, nach der gute Wohnverhältnisse und Häuser für alle zugänglich sein sollten, unabhängig von den jeweiligen finanziellen und sozialen Bedingungen. Diese Haltung reflektiert die tradierten skandinavischen Vorstellungen einer tendenziell egalitären Gesellschaft, deren Mitglieder ungeachtet sozialer Hierarchien wohlwollend aufeinander achten und die niemanden im Wettbewerb zurücklassen. Sein Metier sah er dabei in einer Vorbildrolle: „Die Architektur kann die Welt nicht retten, aber sie kann als gutes Beispiel vorangehen.“ Nicht umsonst nannte er jedes Gebäude, das er plante und realisierte, die Chance auf ein irdisches Paradies.
Aaltos Werk ist durchgehend von der Unberührtheit und grandiosen Ruhe der finnischen Landschaft inspiriert, von den endlosen Wäldern, durch die unablässig Rentiere streifen und die bis in die Städte reichen, vom allgegenwärtigen, manchmal harten Licht des Nordens, vom Wasser des umschließenden Meeres und der tausend Seen auf dem Festland. Dieser Einfluss blieb zeitlebens bestehen, auch wenn Aalto den Austausch mit den europäischen, amerikanischen und japanischen Architekten und Designern seiner Generation bewusst suchte und sich modernen Tendenzen nicht verschloss. Anders als viele vom Bauhaus begeisterte Gestalter der 1920er und 30er Jahre nahm er jedoch bewusst Abstand vom Material Stahl bei der Konzeption von Möbeln; anders als etwa der legendäre Breuer-Sessel mit seinem kantigen Stahlgestänge und seinen Lederspannen kommt der nicht minder legendäre Aalto-Hocker mit solidem Holz aus, lediglich zum Befestigen der Sitzfläche kommt Metall in Form von Schrauben zum Einsatz.
Beim Bau der Villa Mairea konnte Aalto seiner Kreativität freien Lauf lassen und musste weder auf räumliche noch finanzielle Grenzen achten – eine tückische Aufgabe für einen Architekten, kann sie doch in ordinärer Schwelgerei enden. Ganz anders das Resultat Mairea an der finnischen Westküste mit Blick nach Schweden: Natürlich liegt das Anwesen auf einem großen Grundstück inmitten eines Kiefernwaldes solitär und abgeschieden, das gilt aber im dünn besiedelten Finnland für praktisch jedes Sommerhaus am See. Die Villa Mairea weist einen L-förmigen Grundriss auf, die Arbeits- und Gesellschaftsräume liegen im Parterre, private Wohn- und Schlafräume im ersten Stock. Die Fenster- und Türfassungen sind mit dem Holz des umgebenden Waldes eingefasst, die Fassade präsentiert sich in unschuldigem Weiß. Die wandhohen Fenster holen den Garten und den Wald eher ins Innere, als dass sie dieses von jenen abgrenzten. Holzvertäfelte Decken, Treppenstufen und Geländer ebenfalls aus Holz, fasernumhüllte Stützen und steinerne Platten für den Fußboden leiten die Natur diskret ins Haus. Schwimmbecken und Sauna im rückwärtigen Bereich des Grundstückes stellen eine Reminiszenz an die klassische finnische Baukultur dar.
Auch in seinem Tuberkulosekrankenhaus in Paimio an der finnischen Westküste mit ihren Schärengärten lässt sich Aaltos doppelter Zugang aus organischem und funktionalem Bauen ablesen. Das Anfang der 1930er Jahre in Betrieb genommene Sanatorium verfügte seinerzeit mit dem Liegehallenflügel über die größte in einem Stück gegossene Betonkonstruktion Finnlands. Diese Konstruktion wird von Aalto nicht versteckt, sondern als Teil des Dekors betrachtet, ohne in die entsetzlichen Sünden des späteren Brutalismus zu verfallen. Alvar arrangierte im Grundriss die einzelnen Gebäude des Sanatoriums in unrechten Winkeln zueinander, rundete die Gebäudeecken ab und schuf offene Balkone und eine transparente Liegehalle. Er gestaltete gemeinsam mit Aino Sitzmöbel für die Aufenthaltsräume, ließ die Treppenhäuser in warmen sonnigen Farben streichen und machte auch nicht vor der Zurichtung der Spucknäpfe auf den Patientenzimmern Halt. Auch dieses Haus des kollektiven wie passageren Wohnens korrespondiert wie die Villa Mairea mit der es umgebenden Natur, die frische Luft des nahen Waldes ist Teil der Anlage zur Gesundung der Lungenkranken.
Die Stadt Essen im Ruhrgebiet wurde im II. Weltkrieg schwer getroffen und in der Wiederaufbauphase der 1950er Jahre noch schlimmer verwüstet. Das Zentrum ist heute ein Unort der autogerechten Stadt, mit Asphaltschneisen, Bürotürmen und Bahnhof, bar jeder Aufenthaltsqualität. Inmitten dieser urbanen Brache liegt das Aalto-Musiktheater, dessen Wettbewerb Alvar schon 1959 gewonnen hatte, das aber erst 12 Jahre nach seinem Tod von seiner Frau Elissa Mäkiniemi und dem deutschen Architekten Harald Deilmann vollendet wurde. Das Haus ist eingebettet in die Wiese eines städtischen Parks, immerhin ein leises Echo finnischer Wälder. Von außen sieht es unspektakulär aus, wie ein schroffer Felsen im Meer, immerhin ist es kein schamloser Phallus wie die gläsernen Firmenzentralen in seiner Rufweite. Die helle granitverkleidete Fassade ist leicht gebogen, gleiches gilt für das Regendach im Eingangsbereich und für die Griffe zum Öffnen der Portale. Seine ganze Pracht offenbart sich allerdings erst im Inneren.
Der Bau, der für Opernaufführungen optimiert ist, fasst im Parkett und auf den Rängen 1.125 Plätze. Die Sitzreihen sind geschwungen, ihre asymmetrische Aufteilung im Auditorium zitiert das antike Theater von Delphi. Im Foyer und den weitläufigen Treppenhäusern kommt die Besucherin aus dem Staunen nicht heraus, so viele Nuancen an Weiß gibt es hier zu sehen. Das Blau des Vorhangs und der Sitzpolster (mit reichlich Beinfreiheit über dem beigen Boden) ergibt hiermit die beiden Farben der finnischen Flagge, auch dies eine Hommage an den Schöpfer. Ähnlich wie in der Finlandia-Halle in Helsinki entsteht unweigerlich der Eindruck einer Kathedrale der Musik, eines heiligen Raumes inmitten des Profanen des Urbanen. Traurig, dass Alvar die Eröffnung dieses Theaters nicht mehr erlebt hat. Immerhin hat die ungebührliche Verzögerung seiner Errichtung dazu geführt, dass die bühnentechnischen, klimatischen und energetischen Ansprüche behutsam an die fortschreitende Gegenwart angepasst werden konnten. Aaltos Credo einer Architektur für den Menschen ist im Musiktheater Essen Wirklichkeit geworden. Und hiermit sind nicht nur die Sänger und Musiker bei der Aufführung einer Wagner-Oper gemeint, sondern vor allem die Besucher, die wegen des Werkes und wegen der Spielstätte gleichermaßen den Weg ins hässliche Essen auf sich nehmen.