Arbat

  Dass eine Regierung ihrer eigenen Bevölkerung in Friedenszeiten ohne Notwendigkeit so viel Leid auferlegte und die eigentlich dringend benötigten Funktionseliten dermaßen dezimierte, war bis dahin in der Geschichte ohne Präzedenz. – Dietmar Neutatz

Der Arbat ist ein zentrales Viertel in Moskau, etwa einen Kilometer westlich des Kreml gelegen, mit dem Arbatski-Boulevard als Magistrale. Mit der Ausdehnung Moskaus im 18. und 19. Jahrhundert wurde die Gegend mit stattlichen Herrenhäusern und Stadtvillen bebaut, die Bevölkerung setzte sich aus Militärs, Kaufleuten und Handwerkern zusammen, ab dem 20. Jahrhundert auch aus Künstlern und Intellektuellen. Bis heute übt der Arbat, mutmaßlich vom arabischen arbad, etwa Vorstadt, Außenbezirk kommend, eine Anziehungskraft auf die Moskowiter und ihre Gäste aus, die dort entweder wohnen oder ausgehen wollen. Prachtvolle Fassaden der alten Häuser prägen das Straßenbild, auch die Mietshäuser verfügen über gehobenen Komfort. Zahlreiche Restaurants, Theater und Cafés säumen den Boulevard.

Als der Roman „Die Kinder vom Arbat“ im Jahr 1987 erschien, war das eine literarische Sensation. Der Text des Schriftstellers Anatoli Rybakow (1911 bis 1998) entstand bereits in der Chruschtschow-Ära und wurde 1965 einem Verlag angeboten, konnte aber trotz mehrfacher Überarbeitung des Manuskriptes erst in der Zeit von Perestroika und Glasnost publiziert werden. Der Roman erschien zunächst in der literarischen Zeitschrift Друшба Нарадов, die Buchausgabe von 1988 mit einer Auflage von 500.000 Exemplaren war binnen zwei Tagen in der Sowjetunion ausverkauft. Das Buch ist eines der wichtigsten literarischen Werke, die sich mit dem Stalinismus auseinandersetzen und nachzeichnen, wie das Gift des Misstrauens, der Gewalt und des Zwangs sich in der sozialistischen Gesellschaft ausbreitet und die Menschen, ihre Beziehungen und ihr Vertrauen zueinander Schritt für Schritt zerstört.

Der Roman spielt in den Jahren 1933/34 in Moskau. Im Zentrum steht eine Clique junger Leute Anfang 20 am Arbat, die an das zaristische Russland nur noch schemenhafte Erinnerungen haben und bereits im bolschewistischen Geist erzogen sind. Sie geben sich dem Aufbau des Sozialismus hin und stehen bedingungslos zum revolutionären Staat. Der Student Sascha Pankratow gerät wegen einer Petitesse bei der Formulierung eines Artikels für eine studentische Wandzeitung ins Visier der Partei und wird aus dem Komsomol ausgeschlossen. Die Strafe nach einem Prozess, der allen juristischen Standards Hohn spricht, lautet auf drei Jahre Verbannung in Sibirien, seine Laufbahn als Ingenieur und als Kader ist damit perdu. Der Roman schlüsselt auf, wie die Freundinnen und Freunde Saschas auf seinen „Fall“ reagieren. Manche vergessen ihn einfach, nachdem er in den Osten deportiert wurde, andere spekulieren pragmatisch auf seinen frei gewordenen Platz im Komsomol, andere halten zu seiner Mutter und senden ihm Pakete in die Verbannung, ein weiterer schließlich lässt sich nach seinem Jura-Studium opportunistisch als NKWD-Scherge anwerben.

1933 sitzt Josef Stalin als Diktator der Sowjetunion fest im Sattel. Seine innerparteilichen Rivalen hat er längst ausgeschaltet oder ins Exil getrieben, in der Partei greift ein grotesker Personenkult um sich. Fällt sein Name während einer Versammlung im Bezirk, bricht stets ein frenetischer Jubel aus, der zu einem Sturm der Begeisterung sich auswächst. Die parteiinternen Diskussionen sind Geschichte, es gilt allein das Wort des Generalsekretärs. Stalin hat mit seinen Getreuen im Politbüro entschieden, aus dem rückständigen Bauernland binnen einer Generation eine Industriemacht zu formen, koste es, was es wolle. Anfang der 1930er Jahre ist die junge UdSSR eine einzige Baustelle, die enteigneten Bauern fliehen aus Angst vor der Tristesse der Kolchosen in die Städte und vergrößern das Heer der ungelernten Arbeiter. Kanäle werden über Hunderte von Kilometern ausgehoben, der Dnepr wird zum größten Wasserkraftwerk der Welt aufgestaut, am Ural entsteht mit Magnitogorsk die größte Stahlfabrik der Erde. All das geschieht auf Geheiß der Partei unter großen Opfern, ohne Rücksicht auf Verluste an Mensch und Material, die Schwerindustrie hat absoluten Vorrang vor dem Konsum.

Es ist eine bittere Ironie der materialistischen Geschichtsphilosophie, dass ausgerechnet im bäuerlich geprägten Russland der Sozialismus aufgebaut wird, während hoch industrialisierte Länder wie Frankreich, England, Italien und Deutschland trotz starker kommunistischer Bewegungen parlamentarisch-demokratisch bleiben oder aber eine autoritäre national geprägte Regierung bekommen. Josef Stalin hat die Idee seines Erzfeindes Leo Trotzki suspendiert, die Weltrevolution anzustreben, der Sozialismus in einem Land genießt ideologisch und praktisch Priorität. Tatsächlich herrscht in der UdSSR die Diktatur der Partei, an der Spitze des Staates steht der Genosse Stalin, der sich als Vollstrecker der Ideen Lenins feiern lässt und dabei vor Geschichtsfälschungen nicht zurückschreckt. Dieser blutbereite Вожд (Führer) wittert überall Verrat, Spionage, Sabotage und Denunziation, er verbreitet in seiner Umgebung Furcht und Schrecken und lässt seine engste Entourage um ihr Leben zittern.

In dieser fiebrigen Stimmung wachsen „Die Kinder vom Arbat“ als junge idealistische Erwachsene in die emergierende sozialistische Gesellschaft hinein. Ein Außen zur Sowjetunion kennen sie nicht, Reisen ins Ausland sind den höchsten Kadern vorbehalten, Presse und Rundfunk werden zensiert, die Propaganda gaukelt ihnen ein Leben im reichsten Land der Welt vor. Sie glauben an die Allwissenheit der Partei und sind bereit, ohne viel Federlesens ihren Volten zu folgen. So erscheint ihnen der Genosse Pankratow, mit dem sie gestern noch voller Heiterkeit zusammen Silvester feierten, heute als Volksfeind und Konterrevolutionär – die Partei kann sich nicht irren, sie hingegen sind nicht wachsam genug gewesen und haben die Wühlarbeit in ihrer Nähe zu spät bemerkt. Dieses infame Muster der Verleumdung wird während der entsetzlichen Schauprozesse der Jahre 1936/38 ausdifferenziert, als unter Stalins Regie neben den altgedienten Bolschewiki der Oktoberrevolution auch die Generäle der Roten Armee wie auch hohe Manager aus den Industriekombinaten unter absurden Anschuldigungen angeklagt und hingerichtet werden.

1933/34 beobachtet Stalin den Genossen Sergey Kirow mit wachsendem Argwohn. Dieser Revolutionär ist seit Mitte der 1920er Jahre leitender Parteisekretär in Leningrad und gehört als Mitglied des Politbüros zum engsten Führungszirkel der Partei. Er ist ein unabhängiger Kopf, der die Speichelleckerei der anderen Funktionäre gegenüber Stalin vermissen lässt. Überdies gilt er in der Partei als populär, er sitzt bei Theateraufführungen im Parkett und geht zu Fuß durch die alte Zarenresidenz. Stalin wittert in Kirow einen gefährlichen Konkurrenten, dem er unterstellt, an seinem Sturz zu arbeiten und für dieses Ziel Truppen in der Partei zu sammeln. Stalin überlegt, wie er Kirows angeblich wachsenden Einfluss in der Partei beschneiden kann, da kommt ihm das Attentat vom Dezember 1934 gerade recht. Kirow wird unter ungeklärten Umständen in seinem Büro erschossen, der Mord markiert den Auftakt des Großen Terrors in der UdSSR.

Das literarisch Besondere der „Kinder vom Arbat“ ist die Verschränkung simultaner Perspektiven. Der allwissende Autor nimmt abwechselnd die Position Sascha Pankratows, seiner Mutter und einzelner Freunde ein; diese persönlichen Sichtweisen werden kontrastiert mit den inneren Monologen Stalins, die dieser in seinem Arbeitszimmer im Kreml oder auf seiner Datscha bei Sotchi führt. Der Roman zeigt exemplarisch in großer Genauigkeit, wie ein Einzelner ohne Arg in das Getriebe des Räderwerks der Macht gerät. Dabei geht es dem Genossen Generalsekretär keineswegs um die Macht als Mittel der Gestaltung auf dem Weg zu einem übergeordneten Ziel; vielmehr ist ihm die Macht im Sinne Niccolò Machiavellis Selbstzweck, und als Alleinherrscher darf er jedes Mittel einsetzen, um seine Macht zu mehren, zu monopolisieren und zu personalisieren. Dabei setzt Stalin neben dem Aspekt des Schreckens auf jenen der Güte: „Sicher und stark war die Macht, die sowohl auf die Furcht vor dem Diktator als auch auf der Liebe zu ihm beruhte.“

Als ein wesentliches Element des Stalinismus darf das absichtlich zerstörte Vertrauen in den Mitmenschen identifiziert werden. In einer Atmosphäre des Ausnahmezustands wird der Nächste zum schattenhaften Gegner, der Freund kann morgen als Volksfeind verhaftet und exekutiert werden. Die permanente Angst begleitet die Menschen in der Sowjetunion, den Arbeiter wie den Wissenschaftler, den Studenten wie den Funktionär der KPdSU. Selbst die Kommissare und leitenden Sekretäre können sich nicht in Sicherheit wähnen, jeder ist per se verdächtig und muss stets wachsam sein und Bereitschaft zeigen zur Selbstkritik. Es ist das Verdienst der „Kinder vom Arbat“, diese schweflige Stimmung in der Gesellschaft in ihrer Dauermobilisierung zu zeigen. Der Sozialismus erweist sich dabei keineswegs als Paradies im Sinne seiner irdischen Propheten, vielmehr als Inferno, wo zwischen Opfern und Folterknechten nicht immer verlässlich unterschieden werden kann.

Der sowjetische Generalsekretär Mikhail Gorbatschow trat sein Amt 1985 unter der Parole von Glasnost (Offenheit, Transparenz) und Perestroika (Umbau) an. Es ging ihm darum, die Menschen in der Sowjetunion nach Jahrzehnten der Unterdrückung zum Selberdenken zu animieren. In diesem Zusammenhang spielten die Aufhebung der Zensur der Künste und die Garantie der Wissenschaftsfreiheit eine bedeutende Rolle. Gorbatschow öffnete die Archive der Partei, des Innenministeriums und des KGB für die historische Forschung, er erlaubte den offiziellen Abdruck der Werke Alexander Solschenizyns, Jewgenija Ginsburgs, Warlam Schalamows und auch Anatoli Rybakows. 1988 entstand die Menschenrechtsorganisation Мемориал, die Aufarbeitung des Stalinismus nahm erste Konturen an, auch wenn es zu einer strafrechtlichen Ahndung des Menschheitsverbrechens des Gulag weder in der UdSSR noch in Russland gekommen ist.

Anatoli Rybakow ist vom gleichen Alter wie sein Held Sascha Pankratow. Wie auch dieser, wird er wegen eines Lapsus der Universität verwiesen und muss in die Verbannung nach Sibirien gehen. „Die Kinder vorm Arbat“ sind aber durch und durch ein Werk der Fiktion, allen autobiographischen und historischen Parallelen zum Trotz. Gerade der Roman kann Zusammenhänge in einer Klarheit und Linearität darlegen, wie es die Geschichtswissenschaft mit ihrer notwendigen Befragung der Quellen nicht vermag. Rybakow standen bei der Ausarbeitung seines Romans keine Dokumente aus Archiven zur Verfügung; Briefe seiner Leser und die historische Forschung haben seine Darstellung der 1930er Jahre unter Stalin jedoch beglaubigt. Im Russland der Gegenwart ist das Pendel der Aufklärung wieder in die andere Richtung geschwungen: Josef Stalin gilt als historische Figur mit großen Verdiensten um Volk und Vaterland, an seine Millionen Opfer und an seine Täterschaft zu gemahnen, ist bereits ein Akt der Opposition. Erneut kann im leidgeplagten Russland das Lesen eines Romans zu einer Geste der Subversion werden. Die Hüter der Friedhofsruhe wird es ärgern.