Eine Frau muß Geld und ein eigenes Zimmer haben, um schreiben zu können. – Virginia Woolf, Ein eigenes Zimmer
Kerstin freut sich über jede Gelegenheit, die Hektik und die Härte ihrer Stadt für Tage oder Wochen hinter sich zu lassen. Wenn sie wieder zurück kommt und vom Bahnhof in ihr Viertel fährt, spürt sie, wie sich jede Faser ihres Körpers anspannt, um mit den erneuten Zumutungen der Stadt zurecht zu kommen. Wenn sie dann aber die Tür zu ihrer Wohnung aufschließt und ihre Koffer im Flur abstellt, stellt sich unweigerlich ein Zustand des Nach-Hause-Kommens ein. Sie öffnet die Tür zu ihrem Arbeitszimmer und fühlt sich auf Anhieb wohl, die Anstrengungen der Reise fallen von ihr ab. Auch wenn sie ein paar Tage braucht, um dem Rhythmus der Stadt erneut zu gehorchen, findet sie in ihrem Zimmer Schutz, Inspiration und Zuversicht. Es passt ihr wie ihr Lieblingsmantel.
Der Schnitt ihrer Altbauwohnung legt es nahe, diesen großen Raum als Arbeitszimmer zu nutzen, führt doch von ihm eine weitere Tür in ein kleineres, zum Schlafen genutztes Zimmer. Sie war bei der Besichtigung der Wohnung vor bald 20 Jahren begeistert von der enormen Deckenhöhe, dem schmückenden Stuck, dem Lichteinfall durch das hohe Doppelfenster und vor allem von den sandfarbenen Dielen des Bodens. So sehr sich die Einrichtung des Zimmers und das Arrangement der Möbel auch geändert haben im Verlauf der Jahre, diese genannten Elemente der Gestaltung blieben bestehen und wichtig. Ein altes Sofa ist längst von der Stadtreinigung abgeholt worden, ein Röhrenfernseher verstaubt im Keller, ein papierbespannter Paravent dient als Sichtblende des Küchenfensters, ihr Pinarello steht kopfüber vor der Garderobe. Jeder verfügbare Meter Wand ist mittlerweile mit Bücherregalen bestückt, das bislang letzte wurde vor zwei Wochen geliefert und schließt wie maßgeschneidert die Ecke, wo vor geschätzten 40 Jahren noch ein Kachelofen bullerte.
Bei ihrem Einzug reichten vier Regale zum Unterbringen ihrer Bücher aus, mittlerweile sind es zehn geworden, die auch bald vollständig gefüllt sein werden. Die Ordnung ihrer Bücher ist zum Teil logisch strukturiert, zum Teil nur intuitiv geschehen. Das offene Gestell zwischen Eingangstür und Fenster, das Kerstin sich aus vorfabrizierten Stützen, Brettern und Halterungen selbst geschaffen hat, nimmt den Großteil ihrer literarischen Titel auf, ganz überwiegend alphabetisch geordnet. Hier reiht sie die Gedichte Ingeborg Bachmanns und die Romane Albert Camus‘ (letzterer war seinerzeit Schullektüre vor dem Abitur); die Romane Patricia Highsmiths und Thomas Manns (den sie erst spät für sich als belletristischen Autor entdeckt hat, zu schwer lagen ihr seine üblen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ im Magen); die avantgardistischen Übungen Annemarie Schwarzenbachs, die unterschätzten Schriften Robert Walsers und die Danziger Trilogie Günter Grass‘; die Essays Lars Gustafssons sowie die Lyrik von Nelly Sachs, Mascha Kaleko, Anna Achmatova und Gertrud Kolmar. Manche Bücher hat sie lediglich angelesen, andere nimmt sie immer wieder aus dem Rack und taucht in die Welt der Vorstellung ab.
Auf der gegenüberliegenden Seite stehen die Bücher aus ihrer Zeit an der Universität, es sind Fachbücher aus der Politikwissenschaft, der Philosophie, der Soziologie und der Geschichte. Sie sieht die Arbeiten Hannah Arendts, über die sie mündlich im Diplom Anfang der 1990er Jahre geprüft wurde und die seit einigen Jahren eine intellektuelle Hausse erlebt; ihr Finger streicht über die Rücken der Bücher Niklas Luhmanns, über dessen Begriff der Kommunikation sie ihre Diplomarbeit geschrieben hat. Jürgen Habermas, Pierre Bourdieu und Michel Foucault sind ebenso mit ihren Hauptwerken vertreten wie Giorgio Agamben, Sigmund Freud und Carl Schmitt; letzterer wurde im Studium kurz gestreift, später hat Kerstin ihn intensiv rezipiert. Die zivilisationskritischen Bücher Friedrich Nietzsches sind ebenso dabei wie die zivilisationsfeiernden Norbert Elias‘. Wenn es sie an die Quelle der Begriffe zieht, nimmt sich Kerstin die Dialoge Platons zur Hand; zur Auffrischung des Denkens studiert sie die fundamentalen Aufsätze „Politik als Beruf“ von Max Weber und „Die Großstädte und das Geistesleben“ von Georg Simmel.
Fließend der Übergang zum Nachbarregal, das Kerstins Lexika und Lehrbücher aufbewahrt. Sie ist stolz auf die fünfbändige Erstausgabe von „Pipers Handbuch der politischen Ideen“ von Iring Fetscher und Herfried Münkler sowie auf die ebenfalls fünf Bände messende „Geschichte der Frauen“ von Georges Duby und Michelle Perrot. Ein Handbuch gibt Auskunft zur Public Relations, ein weiteres unterrichtet zu Methoden der empirischen Sozialforschung, drei Bände erzählen in Fragmenten die Geschichte der Antike, ein Lexikon rekonstruiert „The gay and lesbian literary Heritage“, die französischen Historiker Philippe Ariès und Georges Duby illustrieren die „Geschichte des privaten Lebens“. Unterhalb der oberen Regalbretter der Lexika beginnt das bibliothekare Einerlei: Eine Planke birgt Literatur zum Schach, eine weitere solche zu Theologie und Religion, zwei Bretter sind dem Körper gewidmet, unter den Aspekten des Sports und des Geschlechtes, während der untere Boden Shakespeares Dramen und Sonette neben einer Biografie Gottfried Benns formiert. Hier hilft Kerstin ihre Erinnerung weiter, eine Besucherin fände sich nicht länger zurecht.
Der Kunst, namentlich der Malerei, der Grafik, dem Design und der Architektur, ist ein eigenes Regal vorbehalten. Mehrere Prachtbände feiern das malerische Werk Caravaggios, einer ihrer chronischen Lieblinge neben Edouard Manet, Jan Vermeer und Vilhelm Hammershoi. Zwei aufwändig gestaltete großformatige Bücher im Schuber über die Stanzen des Raffael und über die Pinacoteca Vaticana erinnern Kerstin an Reisen nach Rom, eines der Zentren der abendländischen Kunst. Ihr Blick streift über Standardwerke von Kurt Weidemann und Hans Peter Willberg über Typografie und das „richtige“ Büchermachen, unweit davon lässt sich die Essayistin Susan Sontag über Fotografie aus und räsoniert über die Bedeutung von Camp. Das libertäre Manifest „Der Ursprung“ von Ayn Rand sticht als Solitär hervor. Ein mitlaufender Subtext der Bildbände zur Malerei ist die Präsentation des Leibes, der je nach Perspektive hetero- oder homosexuell begehrt werden kann. Der Kunsthistoriker Dominique Fernandez schreibt in diesem Sinn über die „Hidden Love“.
Ein einfaches Hängeregal vis-à-vis der Eingangstür gehört ihrem Dauerfavoriten Marcel Proust. Die französische Taschenbuchausgabe der „Recherche“ von Gallimard steht neben den drei Übersetzungen des Zyklus ins Deutsche: Der Goldstandard von Eva Rechel-Mertens aus den 1950er Jahren, den Kerstin mit 18 las und dann erneut mit Ende 40; dessen Revision von Luzius Keller und Sibylla Laemmel aus den 1990er Jahren, die Kerstin ab und an zur Hand nimmt, um zu prüfen, ob sich Rechel-Mertens‘ Arbeit wirklich verbessern lasse; der mutige neue Wurf von Bernd-Jürgen Fischer aus den 2010er Jahren, der in seiner Schärfe stellenweise besser passt als die lieblichen Vorarbeiten, wie Kerstin bei der kürzlichen Lektüre widerfuhr. Die beiden Regalbretter darunter weisen ihre Interessen der jüngeren Vergangenheit aus. Dort stehen Werke zur Geschichte und Kultur Russlands und der Sowjetunion von Karl Schlögel, Manfred Hildermeier und Jörg Baberowski. Die Literatur über das Grauen des Gulag nimmt einen prominenten Platz ein; versammelt sind die Erinnerungen Jewgenija Ginsburgs und Warlam Schalamows, Alexander Solschenizyns und Nadeschda Mandelstams, Fedor Dostojewskis und Anton Cechovs. Zeitgenössische Analysen von Swetlana Alexijewitsch, Anne Applebaum, Masha Gessen und Renate Lachmann runden das Bild des roten Terrors ab.
Diese Gerüste sind nicht nur Speicherorte für bedrucktes Papier zwischen Umschlägen aus Pappe, sondern auch Dekorationsobjekte. Das matte Ocker der Stützen und Bretter harmoniert bestens mit dem Ton der über 100 Jahre alten, leicht schimmernden Dielen des leise federnden Fußbodens. Das Weiß der Wände hinter dem offenen Holz gibt den zentnerschweren Konstruktionen eine Leichtigkeit, die sich auch in den drei jüngsten massiven Ordnern findet. Aus Erle im Baltikum gefertigt, haben sie die gleiche Höhe wie ihre Geschwister der Modulbauweise, auch ihnen geht eine Rückwand ab, dafür warten sie mit einem leicht auskragenden Dach auf. Thematisch herrscht hier schiere Willkür: Bücher über Künstliche Intelligenz stehen Seit an Seit mit solchen über Mobilität (Hermann Knoflacher), Plattenbau (Zupagrafika) und Stadtplanung (Jan Gehl), der Pschyrembel ruht unweit eines Handwörterbuches Russisch, die sechs Bände „Min Kamp“ von Karl Ove Knausgard finden sich in direkter Nachbarschaft zur Neapel-Tetralogie von Elena Ferrante und zum finnischen Nationalepos der Kalevala. Archiviert werden die „New in Chess“, die „Speech“ und „Lettre International“; Aktenordner sind ebenso vorhanden wie Landkarten und Stadtpläne, alte CDs, Studien zur Regionalgeschichte Westfalens, als Tagebücher verwendete Moleskines und ein Karton voller Briefe. Das Auge findet im Gewirr der Farben keinen Halt und erfreut sich am stimmigen Ganzen.
In den fast 20 Jahren, die Kerstin nun in dieser Wohnung wohnt, ist das Arbeitszimmer Schritt für Schritt gewachsen, funktional wie ästhetisch. Mit der jetzigen Anordnung der Etageren schließt sich ein Kreis, von dem Kerstin weiß, dass er mit dem zu erwartenden Kauf neuer Bücher ein bedrohliches Aneurysma ausbilden wird – als einziger Ausweg bliebe der Umzug in eine neue Wohnung mit mehr Platz für die Bücher, von denen sich zu trennen ihr nicht einfiele. Manchmal, wenn sie nachts keinen Schlaf findet, stellt Kerstin sich vor, was passierte, wenn sie unvermutet stürbe. Da sie keine Familie hat, wäre es naheliegend, dass die Hausverwaltung eine Firma zur Entrümplung der Wohnung bestellte. Dann stünden rauchende Möbelpacker, mutmaßlich Polnisch oder Ukrainisch sprechend, vor den Regalmetern und fluchten über das Altpapier, das sie nun händisch entsorgen müssten. Zahllose Suhrkamp-Bände haben in der Tat keinen Tauschwert, das ist ihr klar, allerdings stehen einige gut erhaltene Kostbarkeiten im Raum, die mancher Fachbibliothek zur Zierde gereichten. Zu Lebzeiten wird Kerstin diese nicht bedienen, so steht zu befürchten, dass ihre Inkunabeln im Reißwolf enden werden.
Solange sie denken kann, haben eigene Bücher einen sinnlichen Platz in ihrem Leben eingenommen. Das Halten, Fühlen, Riechen und Lesen eines Buches ist ihr Gespräch und Bewegung mit sich selbst, sie wird oft intellektuell angeregt, manchmal emotional erfüllt, hin und wieder auch verärgert. Sie sieht sich nicht als Sammlerin von Büchern, dazu sind ihre Interessen zu breit gesteckt und ihre finanziellen Möglichkeiten zu bescheiden. Vielmehr sind die Bücher an ihren Wänden Elemente ihrer Biografie, gleich Zellen ihres Körpers; daher scheut sie sich, sie zu verleihen, ihre Brille bleibt ja auch bei ihr. Schon früh hat sie sich angewöhnt, in jedes Buch auf dem Vorsatzblatt das Datum des Erwerbs zu notieren. Sie ist traurig darüber, dass die Bücher ihrer Kindheit und frühen Jugend verloren gegangen sind; ihre Gestaltung, ihre Typografie und die Materialien ließen im Alter eine versunkene Zeit für einen Moment aus dem Ozean der Zeit auftauchen. Kerstins zärtlicher Umgang mit Büchern ist ihre Art, sich in der Welt zu behaupten; instinktiv hat sie von klein auf den stummen Freunden vertraut, die im Gegensatz zu den fleischlichen nicht das Weite suchen, wenn es einmal eng wird. Wenn sie ein Buch aus dem Besitz ihrer verstorbenen Mutter in die Hand nimmt, kommt dies dem Berühren einer Reliquie gleich – sie fühlt sich ihr nah.
Ihr Schreibtisch steht in der Fensternische nahe der Heizkörper, griffbereit für die tägliche Arbeit warten die Duden, der Kluge und der Dornseiff. Die Platte des Tisches aus hellem Holz bietet Platz für den Laptop, einen Becher mit Stiften und Markern, einen Notizblock, eine Lampe, das Telefon und die Zeitung vom Tage. In der linken Ecke rinnt der Sand im Stundenglas, das immer wieder ihren Blick fängt; unweit davon tickt ein Modell der legendären Schachuhr „Gardé“ aus Ruhla, die noch bei den WM-Kämpfen zwischen Garri Kasparow und Anatoli Karpow in den 1980er Jahren zum Einsatz kam. Neben dem Schreibtisch steht ein altes Nachtschränkchen aus dem Nachlass ihrer Großmutter, auf dessen Marmorplatte ein Schachbrett mit Figuren in Turnierqualität ruht. Hier spielt Kerstin Großmeisterpartien nach und erfreut sich an deren Schönheit wie an einer Sinfonie von Gustav Mahler. An der Wand über dem Schreibtisch hängt eine Karte Russlands hinter Glas, kyrillisch beschriftet, als Mahnung, mit dem Russischlernen nicht nachzulassen. Und rechts vom Fenster grüßt eine Schwarz/Weiß-Fotografie ihrer Mutter, die sie im Alter von vielleicht 15 Monaten an einem Laufstall zeigt.
Kerstin schwenkt ihren Bürostuhl vom Schreibtisch weg und erfreut sich der klösterlichen Ruhe des Sonntages. Zwei weitere Möbel stehen im großen, sonst leeren Raum: Leicht schräg versetzt hat sie ein Stehpult platziert, von dem aus man die Tür zum Flur im Auge hat, es ist aus demselben warmen Holz wie die Ordner. Anschließend an das Hängeregal steht eine alte Frisierkommode an der Wand, die stilistisch mit dem Nachtschränkchen harmoniert; auf ihrer Marmorplatte bilden ein Spiegel, eine Vase mit einer selbst geschenkten Rose und Tuben ihrer bevorzugten Hautcreme ein Stillleben. Mögen die Holzmöbel auch ein Potpourri ergeben, addieren sie sich doch für Kerstin zur passenden Rahmung ihres Arbeitszimmers. Hier ist sie daheim, hier fühlt sie sich geborgen, hier kann sie lesen, sinnieren, dichten. Allein die Koffer und Taschen unter dem Hängeregal fallen aus dem Bild und auch wieder nicht. Nehmen sie doch die nächste Reise gedanklich vorweg, die Kerstin an ihrem Ende wieder in ihr Arbeitszimmer führen wird. Über dessen Tür hängt ein schlichtes Holzkreuz, so geht Kerstin jeden Weg mit Gott.