Im seitlichen Schaufenster des Ladens hängt ein großes Demonstrationsbrett mit folgender Stellung: Weiß Kb3, De3, Sc3; Schwarz Ka5, Sa8, Bb6. Die Aufgabe lautet Matt in zwei Zügen, Weiß zieht. Sascha studiert die Stellung und findet schließlich die Lösung De8. Mit Freude über diesen gedanklichen Erfolg betritt sie den Laden, vordergründig, um die neue Ausgabe der New in Chess zu kaufen, hauptsächlich aber, um dem Inhaber zum Geburtstag zu gratulieren. Arno Nickel, Großmeister im Fernschach und dreifacher Olympiasieger dieser Disziplin, vollendet heute sein 70. Lebensjahr.
Arno Nickel, ein freundlicher Herr mit wachen braunen Augen und einem silberfarbenen Bart, ist wesentlich mitverantwortlich für Saschas zweites Schachleben. Als Kind hatte sie das Spiel von ihrem Vater gelernt, Gefallen daran gefunden und dann einige Jahre engagiert im Verein gespielt, ohne je richtig gut zu werden. In der Jugend verlor sie schließlich das Interesse, wandte sich vermehrt der Literatur zu und beobachtete das Schachspiel fortan nur noch aus den Augenwinkeln. Ab und an spielte sie eine freie Partie, konnte mit dem Namen Garri Kasparow etwas anfangen und nahm die Nachricht vom Tode Bobby Fischers, wie sie am 9. März geboren, im Januar 2008 mit Trauer wahr. 2010 schließlich entdeckte sie bei einem Spaziergang durch ihren Charlottenburger Kiez den Laden Lasker’s mit seinen Brettern und Figuren im großen Schaufenster. Beim Betreten des Ladenlokals hatte sie das Gefühl, nach langer Reise wieder anzukommen.
Die linke Wand des Ladens nimmt ein großes deckenhohes Regal mit Schachliteratur ein. Hier finden die Spieler aktuelle Ausgaben der einschlägigen Fachpresse, Bücher zu Eröffnungen, zum Mittelspiel und Endspiel, Autobiografien und Partiesammlungen berühmter Spieler, schließlich historische Turnier- und Wettkampfbücher und auch literarisch-künstlerische Texte zum königlichen Spiel. Von einer Kundin in Saschas Gegenwart auf den Stellenwert von Schachbüchern angesprochen, antwortete Arno Nickel, dass das Schachspiel auch eine wissenschaftliche Seite habe, dass speziell die Eröffnungstheorie permanent neues Wissen produziere, mit dem die ambitionierten Vereinsspieler Schritt halten wollten, von den Großmeistern zu schweigen. Auch wenn die Profis längst in der Vorbereitung und der Analyse mit Computern und leistungsstarker Software arbeiteten, gebe es eine stabile Nachfrage nach gedruckten Büchern.
Arno Nickel, geboren in Flensburg, kam zum Studium der Politik und Geschichte nach Berlin, wo er seit 1984 den beliebten Schachkalender herausgibt, seit 1992 den Schachladen Lasker’s betreibt und ebenfalls seit 1992 in der Edition Marco Bücher zu schachhistorischen Themen publiziert. Er ist Großmeister im Fernschach und wurde 2011, 2016 und 2019 Olympiasieger mit der Mannschaft. In der deutschen Schachszene sorgte Ende 2021 das Gerücht, er werde alsbald in den Ruhestand gehen und keinen Schachkalender mehr publizieren, für gehörige Unruhe. Er selbst sagt, dass er wohl noch bis Ende 2023 als Verleger, Redakteur und Händler tätig sein wolle; für die drei Marken seines Geschäftes schaue er sich nach geeigneten Partnern um. So könne er sich gut vorstellen, dass Niggemann, der größte deutsche Großhändler und Versender für Schachbedarf in Münster, das Ladengeschäft in Charlottenburg als Dependance in der Hauptstadt übernehme. Nickel arbeitet auch als Autor für verschiedene Schachmedien, seine bevorzugten Themen sind das Fernschach, das Computerschach und die Schachgeschichte Berlins und Schleswig-Holsteins.
Lasker’s ist mittlerweile das einzige Geschäft für Schachbedarf im Reichshauptslum. Neben der bereits erwähnten Literatur zum königlichen Spiel bietet er ein reichhaltiges Sortiment an Brettern, Figuren und Uhren an, in der einfachen Ausführung aus Plastik für Schulen und Vereine, in Turnierqualität den Regeln des Weltschachbundes FIDE entsprechend und in aufwändiger Verarbeitung aus Marmor, Glas und Stein für Sammler und Liebhaber. Sascha hat sich ihre Garnitur bei Arno Nickel gekauft, Figuren und Brett harmonieren von der Größe wie der Farbe wunderbar, auf ihrem Schreibtisch steht eine original analoge Garde-Schachuhr aus Ruhla, die bis in die 1990er Jahre bei WM-Kämpfen eingesetzt wurde. Die heutigen digitalen Uhren erlauben komplexere Zeitnahmen wie das Spielen mit Inkrement, eine Anregung, die auf den ehemaligen Weltmeister Bobby Fischer zurückgeht. Dessen Klassiker My 60 memorable games hat Sascha bei Arno Nickel erstanden, ebenso die legendäre Reihe Meine großen Vorkämpfer von Garri Kasparow und die immergrünen Klassiker The King von Jan Hein Donner, Mein System von Aron Nimzowitsch und The life and games of Mikhail Tal aus der Feder des Zauberers aus Riga.
Sascha hat sich bei Lasker’s immer willkommen gefühlt. Der Fernschachgroßmeister Nickel nimmt sich immer Zeit für eine Beratung, wenn sie zum Sichten der Neuerscheinungen vorbeikommt, ganz ohne Allüren und Gehabe gegenüber ihr als Patzerin. Auch wenn sie wie so viele Schachfans das Spielen im Internet entdeckt hat und seit Jahren online Turniere verfolgt, hängt sie doch an der Haptik der hölzernen Figuren auf dem edel gemaserten Brett. Als sie das erste Mal im Laden ein Schachbuch aus dem Regal nahm und durch die Seiten mit den Diagrammen und Analysen blätterte, fühlte es sich wie das Wiederlesen und -sprechen einer lange nicht mehr verwendeten Fremdsprache an, die im Langzeitgedächtnis abgespeichert ist und bei Bedarf aktualisiert werden kann – die Gewandtheit kommt mit dem Sprechen respektive dem Spielen. Voller Wehmut dachte sie an die Schachbücher aus ihrer Jugend, die bei diversen Umzügen verschwanden. Sascha ist längst im Alter, wo sie keine Fortschritte mehr auf den 64 Feldern macht. Das hindert sie aber nicht daran, mit Freuden und Einsatz selbst zu spielen und das Beobachten einer Großmeisterpartie als Kunst zu genießen wie ein Konzert der Philharmoniker oder eine Meditation in der Gemäldegalerie.
Das Schachspiel profitiert paradoxerweise von den politischen Maßnahmen zum Verschluss des öffentlichen Lebens. Die Menschen verbringen viel Zeit daheim, manche fangen wieder mit dem Spiel an, andere entdecken es neu. Auch wenn sie im Netz die ersten Schritte machen, haben sie den Wunsch nach einem eigenen Set. Die letzten beiden Jahre waren wirtschaftlich gut für Nickel, der teilweise selbst nicht mehr vom Großhändler beliefert werden konnte, so stark war die Nachfrage nach Material gestiegen. Die Erfolgsserie „Das Damengambit“, die Ende 2020 auf Netflix lief, hat noch einmal neue Zielgruppen dem als nerdig geltenden Schach zugeführt. Auf YouTube und auf Twitch zählen einzelne Großmeister ihre Fans nach Millionen, die Blitzpartie zwischendurch auf dem Handy gehört mittlerweile zum Alltag.
Auch zum Computerschach ist Arno Nickel auskunftsfähig, ausführlich erklärt er die Funktionsweisen einzelner Schach-Engines zur Analyse und ihre Hardware-Voraussetzungen. Als Denksport hat das Schach durch die Hinzunahme künstlicher Intelligenz einen weiteren Schritt seiner Evolution genommen, auch wenn das Spiel von Menschen gegen die Rechner längst uninteressant geworden ist, zu groß ist ihre Übermacht. Das Schachspiel mit seinen formalen Regeln und seiner abgeschlossenen Ökologie eignet sich paradigmatisch als Anwendungsfeld der Algorithmen auf Hochleistungsprozessoren. Der befürchtete Remistod des Spiels ist nicht das Resultat des Einsatzes der Siliziumhelfer, eher das Aufdecken verborgener Ressourcen in der Eröffnung, in der Verteidigung und im Endspiel. Auch darüber schreibt Nickel in der Fachpresse. Im Hinterzimmer des Ladens hat er sein Büro, wo er Texte verfasst, redigiert und setzt.
Als Sascha nach der Arbeit den Laden betritt, ist eine improvisierte Feier im Gange, Gäste sitzen angeregt beim Sekt und fachsimpeln. Als Sascha ihrem Mentor zum Geburtstag gratuliert, zeigt sich dieser erfreut und fragt nach, woher sie davon wisse. Sie lächelt nur wissend, nennt die Lösung des Rätsels im Schaufenster, bezahlt ihre New in Chess und wünscht ihm noch einen schönen Abend; sie will die gelöste Herrenrunde nicht stören. Mögen die beiden kommenden Jahre sehr langsam vergehen, sagt sie sich beim Weg nach Hause, damit sie noch oft die einzigartige Atmosphäre des Kosmos Lasker’s genießen kann. Der nahende Ruhestand sei Nickel gegönnt, sein Lebenswerk aber darf dadurch aber nicht gefährdet werden. Auch ein Solounternehmer muss sich Gedanken über seine Nachfolge machen. Nickel tut das bei guter Gesundheit und voller Elan. Danke!