Wahrer Gott, wir glauben dir, du bist mit Gottheit und Menschheit hier; du, der den Satan und Tod überwand, der im Triumph aus dem Grabe erstand. Preis dir, du Sieger auf Golgatha, Sieger wie keiner! Halleluja! – Christoph Bernhard Verspoell, GL 780
Die Ostertage stellen für gläubige Christen den Höhepunkt des Kirchenjahres dar, auch wenn vielen Menschen die Bedeutungen von Palmsonntag, Gründonnerstag, Karfreitag und Osternacht nicht mehr geläufig sind. In keiner anderen Religion wird Gott Mensch und geht durch ein grausames Leiden, um durch seine Auferstehung den Tod zu überwinden und das Ewige Leben anzukündigen. Ein größeres Geheimnis des Glaubens, das jeden Verstand übersteigt, ist nicht denkbar. Vor zwei Jahren waren die Kirchen an Ostern noch geschlossen, nach der Aufhebung der elenden Zwangsmaßnahmen im Zuge der Pandemie war es heuer möglich, endlich wieder Ostern zu feiern.
Die Karwoche beginnt mit dem Palmsonntag, dem Einzug Jesu in Jerusalem auf einem Esel. In der Messe wird aus diesem Anlass die Passion Christi gelesen, wie sie von allen Evangelisten erzählt wird. Kerstin besucht aus diesem Anlass die Kirche Sankt Stephanus in der Aaseestadt, die im Jahr ihrer Geburt geweiht wurde, wo das Tragen einer textilen Atemhemmung nur noch empfohlen wird und nicht länger verpflichtend ist. Im Gestühl sieht Kerstin aber nur eine weitere Person, die wie sie selbst bargesichtig das Geschehen vor dem Altar verfolgt. Dort stehen drei offensichtlich professionelle Sänger, die die Passagen des Erzählers, Jesus‘ und Pilatus‘ intonieren. Der hervorragend eingeübte Chor gibt zweistimmig die Stimmen des Volkes wieder. Die Orgel schweigt traditionell in der Karwoche, auch sind Kreuz und Christi Bildnisse im Kirchenraum mit schweren Tüchern verhängt. Die liturgische Farbe dieser Zeit ist das Rot.
Am Mittwoch vor dem Gründonnerstag fährt sie in die Baumberge, um in der Benediktinerabtei Gerleve die Vesper mitzufeiern. In der Abteikirche sind noch einzelne Bänke mit Kordeln abgesperrt, die Prä-Pandemie-Routine will sich noch nicht richtig einstellen. Die Menschen wahren intuitiv Abstand zueinander, die Weihwasserschale im Eingangsbereich ist weiterhin leer, auf den Friedensgruß wird hier ohnehin verzichtet, auch zirkuliert kein Kollektenkorb durch die Bänke. Die Prozession der Mönche in ihren schwarzen Kutten ist stets aufs Neue beeindruckend, einer nach dem anderen tritt an den Altar, küsst dessen Oberfläche und nimmt seinen Platz im Chor ein. Die Psalmen klingen in Kerstins Ohr ein wenig angespannt, möglicherweise kündigt sich die Lust an der Entladung am Osterfest auf diese Weise an, dann darf endlich auch wieder die Orgel gespielt werden. Die Reihen in der unvollendeten Kirche sind schütter besetzt, das Gästehaus hat wieder geöffnet, aber die Übernachtungsgäste reagieren anscheinend nur zögerlich auf den weitgehenden Wegfall der Restriktionen.
Die Karfreitagsliturgie begeht Kerstin wieder in Sankt Stephanus. Hier ist die Trauer, die über dem Tag hängt, mit Händen zu greifen. Der Karfreitag markiert den Nullpunkt des christlichen Glaubens; der als Messias verehrte Jesus, der sich als Vollender der Schrift, als Sohn Gottes und als Künder des Reiches Gottes bezeichnet, geht nolens volens in den Tod. Er lässt sich sehenden Auges von einem seiner Getreuen an die Römer ausliefern, er sieht den Verrat eines weiteren Jüngers voraus, er ist trotz seiner Todesangst bereit, den bitteren Kelch des Sterbens zu trinken, um das Wort der Schrift zu erfüllen. Am Kreuz wird er schreien „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Die Malerei der Tradition stellt die Kreuzigung trotz bildreicher Grausamkeit ästhetisch entrückt dar; der Schriftsteller Mikhail Bulgakow verwies in seinem Roman „Der Meister und Margarita“ darauf, dass auf keinem Gemälde Jesu Kopf von Fliegen bedeckt sei, die sich bei lebendigem Leib über das von der Geißelung zerschundene Fleisch hermachten. Zum Ende der Liturgie wird von den Messdienern ein grob gezimmertes Kreuz in die Kirche getragen und vor den Altar gestellt, die Gläubigen defilieren am Kreuz vorbei und verneigen sich vor dem Zeichen der Erlösung.
Die Kreuzigung war im Römischen Reich um die Zeitenwende eine besonders entehrende und qualvolle Hinrichtungsart. Die gebundenen Füße des nackten Delinquenten standen auf einem kleinen Podest, die Arme wurden waagerecht ausgebreitet und am Querbalken des Holzes fixiert. Das Kreuz stand meist auf einem Hügel, die Hinrichtung war ein Schauspiel zur Abschreckung und Volksbelustigung. In dieser Position traten nach Stunden des Hängens Verspannung, Taubheit und Krämpfe der Muskeln in Nacken, Schultern, Rücken und Armen auf. Der Oberkörper droht nach vorn zu kippen, was eine erneute Kraftanstrengung auslöst; dieser Reflex verhindert das Ersticken durch das Aussetzen des Atemrhythmus. Nach 30, 40 oder auch 50 Stunden schließlich ist die letzte Energie aus dem Körper gewichen, der Torso fällt nach vorn und sein Gewicht beendet die nötige Entspannung der Atemmuskulatur, der Mensch verstirbt. Es war ein Akt der Gnade, den Gekreuzigten nach einigen Stunden mit einem Knüppel die Schienbeine zu zerschmettern, so konnten die Beine den Körper nicht mehr halten und der Tod durch Ersticken trat früher ein.
Jesu Leiden am Kreuz dauert der Schrift nach bloß drei Stunden. Seine körperliche Schwächung ist durch das vorangegangene vierzigtägige Fasten anzunehmen, außerdem wurde er während des Verhörs durch Pilatus schwer gefoltert. Über die Temperaturen am Tag seiner Kreuzigung schweigt das Evangelium, doch darf man annehmen, dass er bereits arg gepeinigt in der Mittagshitze am Balken hing, sodass sein Todeskampf unwillkürlich verkürzt wurde. Von entscheidender Bedeutung für die Heilsgeschichte ist Jesu Bereitschaft, die Schmach des Kreuzestodes auf sich zu nehmen, obwohl sein Inquisitor Pilatus nichts Unrechtes an seinem Verhalten findet; dieser übergibt ihn dem Tode, weil er soziale Unruhen im römisch besetzten Jerusalem verhindern will und mit der Kreuzigung den aufgebrachten Mob befriedigen kann. Jesus vollzieht mit der Kreuzigung den letzten Schritt seiner Mission: „Herr, Dein Wille geschehe.“
Am Ostersonntag fährt Kerstin mit dem Fahrrad hinaus nach Coerde, um in Sankt Norbert Auferstehung zu feiern. Der Bezirk Coerde wurde in den 1960er Jahren auf der grünen Wiese geplant und neu geschaffen, um der wachsenden Bevölkerung der Stadt angemessenen Wohnraum zu bieten. Im Zentrum des Viertels wurde die Kirche Sankt Norbert gebaut, im Stil der Zeit. Der Grundriss des Baues ist ein unregelmäßiges Sechseck, seine vielleicht sieben Meter niedrige Decke ist wie bei einem Zelt nach oben spitz zulaufend, zwei Wände sind mit gerippten Glasfenstern bis zum Boden versehen, der rote westfälische Klinker ist unverputzt. Die Gemeinde ist deutlich heterogener als in der beschaulichen Aaseestadt; Kerstin hört Russisch, sie sieht Philippinos und Schwarze, der Priester spricht mit osteuropäischem Akzent. Wie gut, dass die Weltsprache Katholisch jede Messe überall verstehen lässt. Die Freude an der Jubelfeier der Auferstehung wird lediglich durch die zu laute Musik getrübt, der Organist zieht zu viele Register und überdeckt damit den gemischten Chor.
Am Ostermontag schließlich kommt mit der Emmaus-Geschichte eine von Kerstins Lieblingsstellen der Bibel zum Vortrag. Sie hört diese Passage in Heilig Geist im Südviertel, einem Kirchbau im Stil der Neuen Sachlichkeit aus den 1920er Jahren. Das Kirchenschiff kommt ohne Stützen und Pfeiler aus, in der Apsis zeigt ein wandhohes Mosaik das Pfingstgeschehen der Beseelung durch den Heiligen Geist. So ästhetisch vollkommen der Raum auch wirkt, so missraten ist seine Akustik. Bei der Lesung kann Kerstin nur folgen, weil sie den Text zur Genüge kennt; bei der Predigt kann sie nur raten, wovon der Priester spricht. Jedes Wort wird von den leeren Wänden hallend zurückgeworfen und legt sich über das nächste, eine halbe Sekunde später gesprochene, sodass ein diffuses Geräuschgemisch entsteht, keine differenzierbare Rede. Dass es an der schlecht eingestellten Lautsprecheranlage liegt, merkt Kerstin spätestens, als der Kantor auf der Empore ohne Mikrofon das Gloria intoniert, vollklingend und bewegend.
Kerstin hat es sich zur Tradition gemacht, die Ostertage in Westfalen zu feiern, wo der katholische Glaube weiterhin Teil des Alltags ist, anders als im gottlosen Reichshauptslum. Sie begeht die Passion, die Tötung und die Auferstehung Jesu in verschiedenen Kirchen, jede für sich von besonderem Reiz. Auch als sie im Kloster der Canisianer die Eucharistiefeier am Donnerstag der Osterwoche besucht, lässt sie sich vom Jubel der Schrift anstecken. Sie ist dankbar, an etwas Wunderbares wie die Überwindung des Todes des Fleisches und der Seele glauben zu können; dieser Glaube ist ihr eine Hilfe, als sie verzögert vom Tod einer lieben Freundin erfährt. Sie betet für sie und weiß sie in Gottes Hand. Auch wenn sie diese Frau nicht mehr wiedersehen wird, wird sie in ihrer Erinnerung präsent bleiben, wo sie mit ihren guten Taten für sie weiter lebt. Der österliche Gesang ist der Wind, der die Saiten ihrer Seele zum Klingen bringt – diese Erfrischung möge sie möglichst lange durch ihren Alltag tragen.
Die eigentliche Auferstehung liegt für Kerstin in der Zurücknahme der Zwangsmaßnahmen während der Pandemie: Kein Impfnachweis mehr, kein anlassloses Testen, keine Hinterlegung der Kontaktdaten, keine Maskenpflicht. Diese Regeln haben sie in den vergangenen eineinhalb Jahren an der Feier der Heiligen Messe gehindert. Sie hatte nie Angst vor einer Infektion mit dem Coronavirus, fand die medial geschürte Panik davor immer absurd. Doch an den weiterhin maskierten Gesichtern von geschätzten 90 % der Gottesdienstbesucher erkennt sie, wie tief Herdentrieb und Gehorsam in den Herzen der Menschen nisten. Sei’s drum, für sie markiert dieses Ostern den Sieg der Freiheit und des Lebens über den Tod, gleich doppelt. Zum Abschied zündet sie am Grab ihrer Mutter ein Kompositionslicht an. Sie streichelt über den Sandstein und murmelt Worte der Liebe und der Dankbarkeit und betet, dass sie sie hören könne. Nach ihrem eigenen Tod wird sie es wissen.