Ausnahmezustand

Der Souverän ist derjenige, der über den Ausnahmezustand verfügt, so die berühmte Definition politischer Macht des Staatsrechtlers Carl Schmitt. Juristisch gesehen, ist mit der Ausrufung des Ausnahmezustandes ein Außerkraftsetzen von Regeln und Gesetzen verbunden, an die Stelle der Herrschaft der Verfassung tritt die Herrschaft per Dekret. In der Debatte um die Flüchtlingskrise, die seit Monaten Europa und Deutschland beherrscht, hat sich die deutsche Bundeskanzlerin über geltendes EU-Recht hinweggesetzt und zusätzlich die Wirklichkeit in den Ländern und Kommunen ignoriert, die partout nicht mehr wissen, wo und wie sie die Asylsuchenden unterbringen sollen.

Mit ihrer Zusage, die zahllosen in Budapest festsitzenden Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen, und der Behauptung, das Recht auf politisches Asyl kenne keine Obergrenze, hat Angela Merkel eine Blankoeinladung an alle potenziellen Auswanderer im Nahen Osten, auf dem Balkan, in der Levante und im Maghreb ausgesprochen. In Windeseile hat sich Merkels Parole der offenen Grenzen und ausgebreiteten Arme via Smartphone in den Krisengebieten dieser Welt verbreitet. So standen allen Ernstes Tausende Ausreisewillige in Beirut und warteten auf ein Schiff der deutschen Regierung, das sie, so die irrige Annahme, über das Mittelmeer direkt ins Gelobte Land bringen sollte.

Angela Merkel hat eine gefühlsmäßig geleitete Entscheidung getroffen und en passant die Schengen-Regelung zur Sicherung der EU-Außengrenzen und das Dublin-Abkommen zur Bearbeitung von Asylanträgen im Erstaufnahmeland der EU kassiert. Mit dieser nur scheinbar souveränen Geste wird sie bestenfalls zur Getriebenen des Zuwanderungsdrucks, allen Bemühungen um eine konzertierte Flüchtlings- und Einwanderungspolitik der EU-Staaten zum Trotz. Dass sich kein einziges EU-Mitgliedsland mit der Bundesrepublik „solidarisch“ erklärt, wie Merkel es nun kleinlaut verlangt, ist keine große Überraschung. Wer den Ausnahmezustand mutwillig herbeiführt, muss die folgende Einsamkeit aushalten können.