Autod

  Der Tod ist ein Meister aus Deutschland
Paul Celan, Todesfuge

Steht in Deutschland ein Paradigmenwechsel bevor? Befragt sich dieses Land endlich ernsthaft nach den giftigen Folgen seiner berüchtigten Automobilkultur? Kann diese Republik Freiheit anders denken als über das fehlende Tempolimit auf Autobahnen? Immerhin wird von Klimaschützern (m/w/d) heftig gegen die Internationale Automobil-Ausstellung (IAA) protestiert. Und peinlich passend zur Messeeröffnung schmeißt der oberste Autolobbyist, der Chef des Verbands der Automobilindustrie, sein Amt hin. Die Motorbranche steht unter verschärfter Beobachtung, der Dieselbetrug ist ebenso wenig aufgearbeitet wie die bedenklich schlechte Luft in den Innenstädten infolge der CO2-und NOX-Emissionen.

Ein schlimmer Unfall in Berlin vor zwei Wochen hat die Diskussion um das Rolle des Automobils in den Städten weiter befeuert. Ein tonnenschwerer Straßenpanzer kam von der Fahrbahn ab, raste mit hohem Tempo über den Bürgersteig, knickte einen Ampelmast wie eine Salzstange um und tötete vier Fußgänger. Die Insassen der fahrenden Waffe blieben unverletzt, dem Schützen stehen keinerlei strafrechtliche Konsequenzen ins Haus. Unbeachtet von der Öffentlichkeit werden in Berlin pro Jahr im Schnitt zehn Radfahrer von Autos getötet. Wer in den großen Städten dieses Landes regelmäßig Fahrrad fährt oder nur einfach zu Fuß geht, riskiert sein Leben, zumindest seine Unversehrtheit. Dem Land droht der Autod, die schiere Masse privater PKW erstickt das Leben in den Städten.

Während in Skandinavien, den Niederlanden und der Schweiz bei der Verkehrsplanung die unterschiedlichen Mobilitätsarten längst gleichberechtigt nebeneinander gesehen werden, bleibt in Deutschland das Automobil in seiner „Arroganz des Raumes“ (Mikael Colville-Andersen) unangetastet. Hier markieren Alpharüden weiter mit Hubraum und Dezibel ihr Revier. Die autogerechte Stadt der 1950er Jahre bleibt infrastrukturell dominant, der Anspruch auf einen kostenlosen Parkplatz vor der eigenen Haustür ist zwar noch nicht im Grundgesetz verankert, gilt aber als Menschenrecht. Der Preis des Diesel wird durch massive Subventionen künstlich niedrig gehalten, Dienstwagenprivileg und Pendlerpauschale sind Jahr für Jahr neu aufgelegte Konjunkturspritzen der Bundesregierung.

Warum wird in Deutschland zwar viel von einer Neuen Mobilität, gar von der Verkehrswende geredet, ohne dass den Reden entsprechende Taten folgten? Die Antwort ist so traurig wie naheliegend: Die Lobby der deutschen Automobilhersteller sitzt mit am Kabinettstisch und diktiert dem Verkehrsminister (und vorher der Bundeskanzlerin) ihre Wünsche in den Block. Was BMW, Audi, Daimler und VW nützt, hält auch die Parteien an der Macht. In Baden-Württemberg macht ein grüner Ministerpräsident seit Jahren eine Industriepolitik zugunsten Mercedes‘ und Porsches, die sich kein Gran von der seiner christdemokratischen Amtsvorgänger unterscheidet. Sind die Autos zufrieden, wählen mich die Menschen, so das Kalkül der Regierenden.

Dabei handeln die Deutschen anders, als sie reden. Sie zeigen sich bei Umfragen einsichtig in Fragen des Klimaschutzes, solange die Folgen einer Verhaltensänderung sie nicht selbst betreffen. Sie fahren immer voluminösere Autos und kaufen als Ablass für diese lässliche Sünde im Bioladen. Nach Angaben des Kraftfahrtbundesamtes (KBA) wurden im Jahr 2018 in Deutschland 3,4 Mio. PKW neu zugelassen. Zum 01.01.2018 waren in Deutschland insgesamt 63,7 Mio. Kraftfahrzeuge (Kfz) zugelassen, das entspricht einem Plus von 1,7 % im Vergleich zum Vorjahr. Besonders in den Städten ist der Autod nicht länger von der Hand zu weisen. Dennoch löst sich die Industrie nicht freiwillig von ihrer kranken Wachstumslogik, ohne den begrenzten öffentlichen Raum zu schonen.

Die Konsequenzen sind hinlänglich bekannt: Die durch Autoabgase verdreckte Atemluft lässt bei Kindern, Senioren und Vorerkrankten die Asthmaraten ansteigen, der Lärmpegel an den stark befahrenen Radialen erhöht den Stresslevel und damit den Cortisolspiegel im Blut und führt zu Konzentrationsschwierigkeiten und Schlafstörungen, Unfälle mit schweren Verletzungen oder gar Todesfolgen für Fußgänger und Radfahrer (m/w/d) schaffen es kaum noch in die Nachrichten. Lieferwagen parken in zweiter und dritter Reihe, die Selbstbeweglichkeit (Übersetzung des griechisch-lateinischen „automobil“) wird angesichts ihrer trägen Masse zum sich selbst erzeugenden Stau. Und wenn eine Kommune dann eine symbolische Fahrradstraße einrichtet, ist sie genauso blechverklebt wie jede andere Straße auch.

Dabei schwant der Autoindustrie längst, dass es so nicht länger weitergehen kann, auch wenn sie ihre Produkte wie gehabt in einer sterilen Kunstwelt ohne Krach, Schmutz und Stopps inszeniert. Sie spricht von „intelligenten Mobilitätslösungen“ und will doch nur mehr Einheiten verkaufen. Die Endlichkeit des Erdöls zwingt sie, über andere Antriebsmöglichkeiten nachzudenken, die aber von der Politik bezahlt werden sollen. Ideen zur Befreiung der Städte von der Verkehrssklerose liegen auf dem Tisch: Drastische Erhöhung der Parkgebühren, Einführung einer Citymaut, Schaffung sicherer Radwege unter Streichung von Fahrbahnen, schärfere Geschwindigkeitsbegrenzung inner- wie außerorts, mehr Investitionen in den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). Nichts davon ist in Deutschland durchsetzbar, das Totschlagargument der 800.000 unmittelbar in der Branche Beschäftigten lässt jeden halbwegs gutwilligen Politiker, der noch an seine Zukunft glaubt, zurückzucken.

Der Freitod ist in Deutschland straffrei, auch sein Versuch. Der Grund liegt in der Bezogenheit auf sich selbst allein. Der Autod ist in Deutschland ebenfalls straffrei, obwohl Millionen Menschen mit ihrer Gesundheit und eingeschränkter Mobilität für den asozialen Flächenfraß der Wagen bezahlen. Die Allianz Pro Schiene beziffert die externen Kosten des Verkehrs in Deutschland für das Jahr 2017 auf rund 149 Mrd. Euro, davon entfallen fast 95 % auf den motorisierten Individualverkehr. Die Bundesregierung sollte sich bei der Umsetzung der überfälligen Verkehrswende nicht unterwürfig an den kommerziellen Interessen der Autobauer orientieren, sondern an der Gesamtheit der Wählerschaft; weniger mit fruchtlosen Appellen, sondern mit klaren Regeln und Verboten. Kaum vorstellbar, dass vor 15 Jahren noch hemmungslos in Restaurants, Krankenhäusern und Behörden geraucht werden durfte.