Ich bin Auto, ich bin Vorfahrt – Deutscher Audi-Fahrer mit Migrationshintergrund
Zum Ende der Steinzeit, vor grob 10.000 Jahren begann eine einschneidende Entwicklungsphase in der menschlichen Evolution. Die Menschen gaben das Leben als nomadisierende Jäger und Sammler weitgehend auf und wurden peu à peu sesshaft. Ackerbau und Viehzucht legten den Grundstein zu einer sukzessiven Vergrößerung des Familien- respektive Sippenverbandes, seit etwa 8.000 Jahren kann man von der Stadt als dauerhafter Siedlungsform sprechen. Diese vereinigt in sich Markt- und Handelsplätze, kultisch-rituelle Stätten, militärisches Lager und politisches Zentrum. Kennzeichnend für die Stadt sind die Arbeitsteilung, der Tauschhandel und in der Folge die gesellschaftliche Stratifizierung. Ab der Industriellen Revolution zu Beginn des 18. Jahrhunderts steigt der Anteil der Stadtbewohner in der Bevölkerung exponentiell an; nach Berechnungen der UNO werden zur Mitte des 21. Jahrhunderts global etwa zwei Drittel der Menschen in urbanen Räumen leben.
Dieses Erfolgsmodell der Evolution, das sich über archäologische Funde und überliefertes Schrifttum sowie Pläne und Fotos rekonstruieren lässt, ist in seiner Existenz akut bedroht. Dass städtische Siedlungen wachsen und vergehen, ist ein normaler Vorgang der Geschichte; verantwortlich dafür sind militärische Feldzüge, ökonomische Krisen, Übervölkerung, Seuchen und klimatische Schwankungen wie extremer Frost und Dürreperioden. Ein vergleichsweise junges Phänomen aber ist die destruktive Transformation der Stadt durch ihre Bewohner selbst. So hat das Auto in der rund 100 Jahre währenden Geschichte seiner fordistischen Massenproduktion die Städte stärker geformt respektive zerstört als jeder Krieg. Der traditionelle Befund, dass Stadtluft frei mache, hat sich angesichts der Luft- und Lärmverschmutzung durch immer mehr Autos in den urbanen Räumen in sein Gegenteil verkehrt. In Deutschland sind nach Angaben des Kraftfahrtbundesamtes 66,9 Millionen Kraftfahrzeuge zugelassen, das entspricht einer Fahrzeugdichte von 710 Kfz je 1.000 Einwohner.
Kein Land der Welt hat sich im 20. Jahrhundert so hemmungslos der „autogerechten Stadt“ überlassen, wie es der Architekt Hans Bernhard Reichow in seinem gleichnamigen Werk von 1959 paradigmatisch formuliert hat, wie das westliche Deutschland des Wiederaufbaus. Bereits die automobilbegeisterten Nationalsozialisten hatten durch den Bau überbreiter asphaltierter Magistralen den keimenden motorisierten Individualverkehr gefördert. Als nach dem Krieg nahezu alle deutschen Städte in Trümmern lagen, schlug die Stunde der Stadtplaner. Rigoros ließen sie, repräsentiert durch den Hannoveraner Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht, erhaltene historische Gebäude im Zentrum der Städte abreißen, um wuchtige Stadtautobahnen mitten durch bewohnte Viertel zu schlagen. Besonders schlimme Beispiele der autogerechten Stadt liefern Bochum, Dortmund, Hannover, Kassel und Stuttgart, doch finden sich Betonschneisen ausschließlich für den Autoverkehr in jeder größeren deutschen Kommune. Dieser „Vision“ zufolge sollen die Verkehrsarten strikt getrennt werden, wobei das junge Automobil als Massenartikel durch Platz, Parkraum und Ampelschaltungen schamlos bevorzugt wurde.
In den letzten 80 Jahren hat sich das Gesicht der Städte in Europa so sehr geändert wie noch nie. Jede urbane Siedlung (vom lateinischen urbs, der Stadt, anfangs Rom meinend, später allgemein verwendet), ob nun langsam gewachsen oder auf der Grundlage größerer Pläne rasch erweitert, beruht organisatorisch auf einem Raster an Straßen, die zwischen Blöcken verlaufen, in denen Menschen wohnen und arbeiten. Plätze, auf denen soziales Leben vom Markt über die Feier und das Spektakel bis zum Aufstand geschieht, rhythmisieren das Gefüge der Stadt, Brücken verbinden einzelne an Flüssen gelegene Quartiere. Bis weit in die 1920er Jahre gehörte die Straße buchstäblich allen Bewohnern, Fotos dieser Zeit zeigen ein Nebeneinander von Bussen, Fußgängern, Radfahrern, Straßenbahnen, Pferdefuhrwerken und Autos. Das Leben auf der Straße folgt dem menschlichen Maßstab, seinem Tempo und seinem Blick – heute sind sogenannte Plätze in der Metropole funktional monothematisch umgewidmet. Im ehemaligen Westteil des Reichshauptslums etwa sind der Adenauer, der Innsbrucker, der Walther-Schreiber- und der Richard-Wagner-Platz lediglich stark befahrene Straßenkreuzungen ohne jede Aufenthaltsqualität einer freien, für Menschen zugänglichen Fläche, während der Ernst-Reuter-, der Jakob-Kaiser-, der Theodor-Heuss- sowie der Rathenau-Platz zu kreisrunden Asphaltflecken zur Lenkung des Autoverkehrs in die anschließenden Hauptstraßen verkommen sind.
Dieser strukturelle Flächenfraß des privaten PKW (in den Worten des dänischen Mobilitätsplaners Mikael Colville-Andersen „Arrogance of Space“) setzt sich fort und findet sich besonders schlagend beim routinierten Abstellen des Fahrzeugs am Straßenrand. Etwa ein Drittel der Straße wird dauerhaft von immer mehr und vor allem immer größeren „parkenden“ Autos in Beschlag genommen, sodass an etlichen Stellen Rettungs-, Liefer- oder Müllwagen kein Durchkommen mehr finden; die lokalen Ordnungsämter, die theoretisch eingreifen könnten, haben kapituliert und legalisieren diesen lebensgefährlichen Landraub stillschweigend. Dass es überhaupt umzäunte gesicherte Spielplätze für Kinder gibt, ist aus der Allgegenwart des Autos auf deutschen Straßen abgeleitet – diese sind genauso wie die Unterführung, das Parkhaus, die Fußgängerzone und die Hochbahn Produkte der 1950er und 60er Jahre, die heute von der Gesellschaft resignierend als normal hingenommen werden, als seien es Naturereignisse wie Schnee oder Sonnenschein.
Die Autoerotik speziell der Deutschen hat einen hohen Preis. Pro Jahr sterben nach Angaben von Hermann Knoflacher, Professor emeritus für Verkehrsplanung an der Technischen Universität Wien, weltweit etwa 1,2 Millionen Menschen direkt bei Verkehrsunfällen, rund 6 Millionen sterben an den Folgen der autobedingten Luftverschmutzung; zusätzlich werden bis zu 50 Millionen Menschen durch Verkehrsunfälle zum Teil schwer verletzt. Wäre das die Bilanz des internationalen Terrorismus, wäre eine konzertierte Aktion der Staatengemeinschaft die sofortige Folge. Doch die lebensbeendenden Wirkungen des Autoverkehrs werden nirgends mehr skandalisiert, weil jeder nur die eigene individuelle motorisierte (Im)Mobilität sieht, für die die Allgemeinheit die Infrastruktur bereitzustellen hat. Diese kognitive Dissonanz ist nur zu erklären über eine schleichende Degeneration des Hirns – so erlebt sich etwa jeder Autofahrer als im Stau stehend, ohne zu realisieren, dass er diesen Stau mit produziert. Und jede Mutter auf dem Weg im Straßenpanzer in die Kita ist Teil der Gefahrenzone Straße, vor der sie ihre Kinder mit dem Transport im SUV bewahren will.
Läuft der Mensch auf eigenen Beinen, was er seit des Erlernens des aufrechten Ganges tut, kann er in der Spitze eine Geschwindigkeit von 20 km/h erreichen und diese, falls er gut trainiert ist, zwei Stunden durchhalten. Fährt der Mensch auf einem Fahrrad, kann er aus eigener Körperkraft maximal 55 km/h erreichen, allerdings nur für gut eine Stunde. Am Steuer eines zwei Tonnen schweren PKW erreicht er allein durch das Betätigen eines Pedals ein Tempo von 180 oder gar 240 km/h; diese Beschleunigung weit über seine leiblichen Grenzen hinaus geht mit einer extremen Verengung der Perspektive und der sinnlichen Wahrnehmung einher. Der Bremsweg eines solchen Geschosses ist mindestens hundert Meter lang, bei einem Aufprall auf ein anderes Auto sind schwerste Verletzungen bis zum Tod aller Insassen garantiert. Die Mensch-Maschine-Interaktion führt auch schon bei Tempo 50 zu einer Ausblendung der Umgebung und dort befindlicher Menschen, Tiere, Pflanzen und Artefakte. Offensichtlich wird durch die motorisierte Beschleunigung ein Hirnareal angesprochen, das emotionale Belohnung zulasten von Verantwortung, Rücksichtnahme und Empathie vergibt.
Der libidinösen Sogwirkung des Automobils ist mit Rationalität und Argumenten nicht beizukommen. Die obszöne Macht der deutschen Automobilindustrie, die als sakrosankt gilt, tut das ihre, um die unhaltbaren Zustände in deutschen Städten stabil zu halten. 800.000 Arbeitsplätze direkt bei den Herstellern, eine weitere runde Million bei den Zulieferern sind Druckmittel genug gegen jeden noch so wohlmeinenden Politiker. Enge Lobbyverbindungen zwischen der Bundesregierung und dem Verband der deutschen Automobilindustrie, inklusive eines personellen Austausches zwischen diesen Institutionen, garantieren eine Verkehrspolitik, die sich an den Wünschen der Industrie orientiert und nicht an den Bedürfnissen der Menschen in den Städten. Noch immer setzt das Motorkartell darauf, das private Fahren als Inbegriff der Freiheit zu verkaufen, auch wenn es sich um ein systemisches Abhängigkeitsverhältnis handelt. Jeder Werbeclip zeigt genau ein glitzerndes Auto in einer sterilen Stadtlandschaft ohne Stau, rote Ampeln und überrollte Radfahrer. Im Urlaub fahren die Menschen bevorzugt in halbwegs intakte Natur, die in ihrem Habitat längst vom Auto vernichtet wurde.
Dabei gibt es durchaus Hebel der Politik, aus den versiegelten urbanen Räumen wieder „humane Städte“ (so namentlich die Konzepte und Arbeiten der dänischen Architekten und Stadtplaner Jan Gehl und Karsten Pålsson) zu machen, was angesichts des Klimawandels als dringliche Aufgabe erscheint. Tokio etwa verlangt von jedem Autokäufer den Nachweis eines privaten Stellplatzes, Oslo und Stockholm bewirtschaften das Anwohnerparken mit rund 600,- Euro jährlich – in Deutschland ist das Parken am Straßenrand überall möglich und fast immer gratis. In den 1990er Jahren wurden in den neuen Bundesländern flächendeckend Schienenstränge stillgelegt, parallel dazu wurden neue Autobahnen an die Ostsee und ins Erzgebirge gebaut – natürlich steigt damit in der Folge rekursiver Kausalität das PKW-Aufkommen. Die Eigenheimzulage, die Pendlerpauschale, das Kilometergeld und das Dienstwagenprivileg, kombiniert mit einem künstlich niedrigen Benzinpreis, sind gewollte Subventionen für die weitere Zersiedelung des ländlichen Raumes – dessen stadtflüchtige Bewohner dann wieder mangels guter ÖPNV-Anbindung mit dem Auto zum Arbeiten in die Stadt pendeln.
Vor der Amfortas-Frage der Verkehrspolitik drücken sich sämtliche Entscheider in den Rathäusern der Kommunen: Der öffentliche Raum muss entsprechend der verschiedenen Verkehrsarten neu verteilt werden. Zwar können die überdimensionierten Magistralen, die deutsche Städte wie Grenzen aus Beton, Gas, Glas und Blech zerschneiden, nicht einfach rückgebaut werden, allerdings kann die Hälfte des Straßenlandes zu Grünstreifen, gesicherten Fahrradwegen und Handelsflächen umdefiniert werden. Was in Wien, in Barcelona, in Brüssel, in Amsterdam, in Kopenhagen und selbst in Paris funktioniert, nämlich die drastische Verringerung des innerstädtischen Autoverkehrs, und zu einer überwältigenden Zufriedenheit der Anwohner, der Händler und der Touristen führt, wird hierzulande ideologisch als Sozialismus diskreditiert. In Deutschland, wo improvisierte Radstreifen aus der Corona-Zeit von Gerichten kassiert wurden, wo sogenannte Fahrradstraßen selbstredend genauso von PKW blockiert werden wie jede andere Straße, wird es auch nach der Bundestagswahl kein Tempolimit auf Autobahnen geben. Und im Reichshauptslum wird gerade ein drei Kilometer langes Stück Stadtautobahn für eine halbe Milliarde Euro gebaut, deren Planung bis auf das Jahr 1958 zurückgeht.
Vermutlich ist die Entscheidung der Alliierten, nach dem II. Weltkrieg aus der Bundesrepublik ein politikfernes Land des privaten Konsums zu machen, mitverantwortlich für die erotische Bindung der Deutschen an ihr Auto als Statussymbol, Wohlstandszeichen und Identitätsanker. Hermann Knoflacher konstatiert, dass das Auto den Menschen enthumanisiere. Der Autofahrer unterscheide sich vom Menschen mehr als jedes Insekt, weil kein Insekt durch sein Verhalten den Lebensraum folgender Generationen schädige und vernichte. Die tägliche Aggressivität der Fahrer hinter ihrem Steuer legt beredt Zeugnis ab von der germanischen autoerotischen Pathologie – Hoffnung auf Besserung ist leider nicht in Sicht. Folgende Durchsage im Radio wird es in Deutschland niemals geben: „Durch den berufsbedingten morgendlichen Autoverkehr sind sämtliche Straßen in der Stadt, speziell jene in der City verstopft. Es kommt zu erheblichen Behinderungen des Fahrrad- und des Fußgängerverkehrs, zum Teil in lebensbedrohlichem Ausmaß. Wie gewohnt, wird die Polizei der motorisierten Gewalt auf deutschen Straßen keinerlei Einhalt gebieten.“