Autofrei

Das Erste, was Sascha auf dem morgendlichen Weg nach Passieren des Ernst-Reuter-Platzes auffällt, ist die Stille. Sie kann das Sirren der Reifen ihres Rades auf dem Asphalt hören, die Vögel im Blattwerk der rostroten Bäume singen vielstimmig, Gesprächsfetzen vom Großen Stern wehen über hundert Meter herüber, ein Eichhörnchen huscht über den Asphalt. Instinktiv fährt sie in der Mitte der vierspurigen Allee, auf der noch die blauen Streckenmarkierungen des letzten Marathon prangen. Sie kommt sich vor wie in einer fremden Stadt.

Die Straße des 17. Juni gehört zu den besonders stark belasteten Straßen, hier zeigt sich die Dominanz des motorisierten Individualverkehrs in hemmungsloser Brutalität. Vier Fahrspuren weisen in beide Richtungen der Ost/West-Magistrale, eine weitere ist als Parkraum ausgewiesen. Wie eine mobile Wand aus Blech, Glas und Gummi zerschneidet der Autoverkehr den Tiergarten, einstiger Jagdwald der Brandenburger Kurfürsten und späterer Lustpark für die Bevölkerung Preußens. Die Touristen aus Fernost mit ihren Atemmasken auf den flankierenden Trottoirs verstehen ihr eigenes Wort nicht, so sehr lärmen die Motoren. Trotz der vielen Bäume und repräsentativer Bauten wie dem Schloss Bellevue oder der Philharmonie ist der Tiergarten ein Unort, das Verweilen wird verdorben durch die Autobahn in seiner Mitte.

All das ist jetzt für einen langen Moment aufgehoben. Selbsternannte Klimarebellen (m/w/d) haben den Kreisverkehr rund um die Siegessäule im Zentrum des Tiergarten besetzt und damit den Autoverkehr zum Erliegen gebracht – die Polizei lässt sie vorerst gewähren, sperrt die Zufahrtsstraßen und schafft damit eine himmlische Ruhe inmitten der Stadt. Die Aktion der geschätzt 800 Blockierer soll als rabiate Maßnahme des zivilen Ungehorsams mehr Aufmerksamkeit für den Klimawandel schaffen, en passant kreiert der Stopp der Motoren eine lebenswerte Atmosphäre der Entspannung, die die Stadt schon gar nicht mehr kennt. Die Aktiven sind zu jung, um sich an die autofreien Sonntage während der Ölkrise 1973 zu erinnern, als ein ganzes Land voller Staunen die Welt aus der Perspektive der Fußgänger und Radfahrer entdeckte.

Auf den gesperrten Straßen biwakieren überwiegend junge Leute, teilweise Kinder im Arm haltend, singend und lachend, unmaskiert und ohne Barrikaden, den vereinzelt vorbeifahrenden Radlern ein Winken mitgebend. Sascha lächelt unwillkürlich vor Rührung und Dankbarkeit; diese Menschen stoppen mit ihren verwundbaren Körpern die tägliche Rüstung auf Rädern, der so generierte Raum lässt den Blick frei auf die Stadt, die so schön sein könnte in ihrer Weitläufigkeit. Erst die befristete Abwesenheit der viel zu vielen Wagen zeigt eine Stadt jenseits des horror vacui, die den sinnlichen Bedürfnissen der Menschen und ihren Proportionen gerecht wird und nicht jenen der Autos in ihrem Krach, Dreck und Flächenfraß.

Die Aktivisten, die in diesen Tagen mit der Blockade von Straßen und Brücken die Stadt lahmlegen wollen, treffen einen Nerv: Die bundesdeutsche Gesellschaft kann ihre Mobilität und ihre Freiheit offensichtlich nicht jenseits des Kfz und dessen Infrastruktur definieren, was sich an den aggressiven Kommentaren so mancher umgeleiteter Autofahrer zeigt. Diese nehmen gern die Annehmlichkeiten eines seit Jahrzehnten subventionierten Autoverkehrs für selbstverständlich, ohne sich einen leisen Gedanken über seine gewaltigen kollektiven Kosten und Grenzen zu machen. Dieser Widerspruch tritt bei den Besetzungen neuralgischer Kreuzungen blitzend zu Tage. Offensichtlich verstärkt die Position hinter dem Lenkrad Egoismus, Darwinismus und Zukunftsblindheit.

Auf dem Weg zum Büro passiert Sascha das Kanzleramt, wo die Protestler ein provisorisches Zeltlager errichtet haben, und den Reichstag, im Parlamentsviertel ist eine zentrale Brücke nur für Räder und Rettungskräfte passierbar. Das peinliche Klimapäckchen, das dieser Tage von der Regierung vorgelegt wird, scheint ob seiner Folgenfreiheit den Schwung der Aktivisten (m/w/d) nur zu befeuern. Die Polizei ist präsent, dabei entspannt und ansprechbar. Ihr oberster Dienstherr, der Senator des Innern, bekräftigt in einer Stellungnahme das moderate Vorgehen der Beamten mit den bemerkenswerten Worten, die Polizei habe das Recht auf Demonstrationen zu schützen, nicht deren Inhalte. Überdies sei der Gummiknüppel ein Relikt der 1980er Jahre, er wolle keine Eskalation mit Verletzten bei einer Räumung riskieren.

Der Autoverkehr in den Städten ist selbst eine tägliche, nicht angemeldete, von der Polizei regulierte Demonstration der „Arroganz des Raumes“ (Mikael Colville-Andersen), er ist die eigentliche Blockade der City im Namen des Tempos, des Konsums und des ungebremsten Wachstums. Er forciert mit seiner permanenten Landnahme den Dichtestress und wird gegen jede historische Evidenz für unausweichlich gehalten; parallel dazu reift bei immer mehr Menschen die Einsicht, dass das urbane Leben durch die Übermacht der Autos gelähmt wird. Kein Wunder, dass die Klimakrise und die Verkehrswende verzahnt gedacht werden, wenn auch nicht von der Bundesregierung mit ihrer unseligen Politik der Beschwichtigung.

Das Erleben eines autofreien Tiergarten, der zur Kontemplation ermuntert, ist womöglich der Auftakt einer Veränderung hin zu einer menschengerechten Stadt. Sascha schwingt sich nach Dienstschluss auf ihr Velo, auf der besetzten Brücke nebenan wehen Fahnen mit dem mahnenden Stundenglas, am Geländer fordern Transparente die Regierung zum sofortigen Handeln auf. Sie biegt hinter dem Brandenburger Tor auf die leere Straße des 17. Juni, mit dem Baumsaum in Herbsttönen könnte sie nach Neuengland oder Karelien weisen. Jenseits der Siegessäule Richtung Charlottenburg nimmt das Dröhnen schwellend zu, das Reich der Maschinen rückt näher. Unwillkürlich fährt sie langsamer, will die Strecke nicht möglichst schnell hinter sich bringen wie sonst, sondern die Fahrt in Wind und Abenddämmer genießen. Körper und Geist werden noch früh genug verkrampft.