Die Gedichtbände „Die gestundete Zeit“ und „Anrufung des Großen Bären“ haben den Ruhm Ingeborg Bachmanns (1926 – 1973) begründet; aus dem niederösterreichischen Klagenfurt zog es sie zeitlebens nach Italien, ihr „erstgeborenes Land“. Bachmann war eine von der Philosophie inspirierte Dichterin und kleidete Fragen nach der Existenz in Verse, getreu ihrer Überzeugung: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.
Die frühen Jahre der Bundesrepublik Deutschland standen im Zeichen des Wiederaufbaus und des entschlossenen Verdrängens des III. Reiches, kulturell war die Ära Adenauer ausgesprochen restaurativ. In den Kinos liefen Heimatfilme à la „Grün ist die Heide“ und „Der Förster vom Silberwald“, die erste Documenta 1955 in Kassel suchte zaghaft Anschluss an die Moderne der Bildenden Kunst. In diesem Biedermeier wirkte der Auftritt der österreichischen Dichterin Ingeborg Bachmann wie eine Erscheinung. Ihre Lyrik kam vorbildlos daher, schien die Grenzen des Sagbaren zu überschreiten; deutlich erkennbar war Bachmanns Abkunft vom Lied, wollte sie doch ursprünglich Komponistin werden: „Für mich ist Musik größer als alles, was es gibt an Ausdruck. Dort haben die Menschen das erreicht, was wir durch Worte und Bilder nicht erreichen können.“
Ingeborg Bachmann wurde 1926 in Klagenfurt als erstes von drei Kindern geboren. Ihr Vater, ein Schuldirektor, trat 1932 in die NSDAP ein, die Mutter war Hausfrau. Sie machte 1944 ihre Matura und begann im Jahr darauf in Wien und Graz ihre Studien der Philosophie, Germanistik, Psychologie und Rechtswissenschaften, die sie 1950 mit einer Promotion über Martin Heidegger abschloss. 1946 konnte sie die Erzählung „Die Fähre“ in der Kärntner Illustrierten veröffentlichen, nach dem Studium arbeitete sie in Wien als Rundfunkredakteurin. Als Lyrikerin debütierte Ingeborg Bachmann 1953 mit dem Band „Die gestundete Zeit“, für den sie den Preis der „Gruppe 47“ bekommen hatte.
Bachmann wurde in der Folge, in den Worten eines Kritikers, „zu einer Art Fetisch der Gruppe 47“, dem maßgeblichen literarischen Forum jener Jahre. 1958 veröffentlichte sie die Gedichtsammlung „Anrufung des Großen Bären“; 1959 wurde ihr der Hörspielpreis der Kriegsblinden für ihr Hörspiel „Der gute Gott von Manhattan“ verliehen. Mit dem Erzählband „Das dreißigste Jahr“ von 1961 erfolgte die Hinwendung zur Prosa, 1964 wurde sie mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet. Ab 1965 lebte sie nach Jahren der Vagabondage in Rom, wo sie 1973 ums Leben kam. Mit einer brennenden Zigarette im Bett eingeschlafen, fing ihr Nachthemd Feuer, sie wurde mit Verbrennungen dritten Grades in die Klinik eingeliefert. Todesursächlich war ihre schwere Abhängigkeit von Barbituraten, die die behandelnden Ärzte nicht gleich erkannten und deren Entzug zu heftigen Konvulsionen führte. Ingeborg Bachmann liegt begraben in ihrer Geburtsstadt Klagenfurt, seit 1977 wird hier der nach ihr benannte Lesewettbewerb veranstaltet.
Zum gleichaltrigen Komponisten Hans Werner Henze pflegte sie „die wichtigste menschliche Beziehung, die ich habe“. Henze lebte seit den frühen 1950er Jahren auf Ischia resp. in Neapel, wo Bachmann zeitweilig mit ihm einen Haushalt teilte. „Die Wohnung in Neapel kann man ansehen als einen Versuch der Festmachung, als ein Surrogat für Verlöbnis und Ehestand“, wie Henze anlässlich der Herausgabe des Briefwechsels zwischen den beiden notierte. Bachmanns Wunsch nach einer realen Heirat fand indes keine Entsprechung beim schwulen Henze, für den sie keine Trophäe war, sondern eine Gefährtin. Gerade deshalb führten die beiden neben ihrer Freundschaft eine Jahrzehnte dauernde Arbeitsbeziehung; so schrieb Ingeborg Bachmann für Henzes Opern „Der Prinz von Homburg“ und „Der junge Lord“ die Libretti sowie für sein Ballett „Der Idiot“ einen Monolog.
Der Deutsche Henze verzweifelte am reaktionären Kurs der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik 1956, der ihn in Italien bleiben ließ; die Österreicherin Bachmann engagierte sich im Wahlkampf für den Sozialdemokraten Willy Brandt. In den Briefen berichteten sie einander von den jeweiligen künstlerischen Projekten und über Klatsch im Kulturbetrieb, über die Rezeption durch Kritik und Publikum. Vor allem spendeten sie sich Mut und Trost: „Liberta! Bellezza! Cantare! Non per paura, ma per vita!“ In Italien, dem transalpinen Projektionsland par excellence, kam Bachmann an, hier fand sie Freiheit und Muße zum Arbeiten: „Gelernt habe ich etwas von den Italienern, das ist schwer zu erklären. Denn man kann von ihnen etwas lernen, wenn man alles wegwirft, jede Vorstellung, die man sich vorher gemacht hat davon. Es sind nicht die Schönheiten, nicht die Orangenbäume und nicht die herrliche Architektur, sondern die Art zu leben.“
Bachmanns sprachliche Welt ist eigentümlich abstrakt und zugleich nahbar, voller durchaus schöner Metaphern; manche Worte scheinen um des starken Schalles Willen gesetzt, wie sich wiederholende Silben einer monotonen Beschwörung. Und doch ist ihre intellektuelle Poesie nicht nur um ihrer selbst da, sie liefert immer wieder Beispiele tiefer Klarheit, wie ihre weisen „Lieder auf der Flucht“ (1958), von ihrem Seelenverwandten Hans Werner Henze vertont: „Die Liebe hat einen Triumph und der Tod hat einen, / die Zeit und die Zeit danach. / Wir haben keinen. // Nur Sinken um uns von Gestirnen. Abglanz und Schweigen. / Doch das Lied überm Staub danach / wird uns übersteigen.“
Ingeborg Bachmann hat zeit ihres Lebens das Bild des scheuen Rehs kultiviert. Dem wiederkehrenden Liebesversagen begegnete sie intuitiv mit dem von Henze vorgeschlagenen Rezept: „Die vielen schlimmen Traurigkeiten und Einsamkeiten, die kann man nur ertragen, indem man arbeitet (im Dunkel singt) und sich selbst weitgehend ignoriert.“ Die Heutigen finden in der Poesie Bachmanns Anker in Stunden der Melancholie und des Abschieds, einen Grundton im Selbstgespräch des Lesens und Schreibens. Man muss sich nur die Zeit nehmen und ihre Gedichte lesen, so wie man die Lieder Franz Schuberts hört oder die Gemälde Vilhelm Hammershøis betrachtet, offen für die Stille der Welt.