Das Baltikum als homogener nationaler, politischer und kultureller Raum existiert wohl nur im übertragenen Sinn, zu different sind die drei unter diesem Begriff subsumierten Republiken Estland, Lettland und Litauen. Ihnen ist gemein, dass sie nach Jahrhunderten der Fremdherrschaft 1918 ihre staatliche Unabhängigkeit proklamierten, diese 1940 wieder einbüßten und sie sich mit der Epochenwende 1989/91 erneut eroberten.
Im Mittelalter kolonialisierten der Deutsche Orden und die Hanse den nordöstlichen Ufersaum der Ostsee. Ab der Reformation stand das seinerzeit Kurland und Livland geheißene Gebiet im Norden unter dänischer resp. schwedischer, im Süden unter polnischer Herrschaft, bevor im Gefolge der Französischen Revolution das expansive Russische Reich auf dem Territorium als Besatzungsmacht auftrat. Vom „Baltikum“ ist in Anlehnung an Baltia die Rede, dem lateinischen Namen für ein Bernsteingebiet.
Bis heute traumatisierend auf die Menschen, weit stärker noch als die Besatzung durch das Deutsche Reich während des II. Weltkriegs, wirkt die gewaltsame Eingliederung Estlands, Lettlands und Litauens ab 1940 in die Sowjetunion. Das erklärt die defensive Politik der drei heutigen Mitgliedstaaten der EU, des Euroraumes und der NATO gegenüber Russland. Hier hat man im Gefolge der Ukraine-Krise berechtigte Sorge vor einer erneuten Annexion durch den Kreml. Die Brüsseler Zentrale wird als willkommene Subventionsagentur der heimischen Volkswirtschaften betrachtet, das Militärbündnis gilt als Garant politischer Souveränität.
Die abseits der Hauptstädte dünn besiedelten Länder, von der Fläche jeweils kleiner als die DDR, bestechen durch kaum berührte Landschaften, endlose Strände, dichte Kiefernwälder und Moore. Tallinn hat sich das mittelalterliche Zentrum bewahrt, Riga glänzt mit seinem Jugendstilensemble, Vilnius wirkt wie ein Stockholm en miniature. Die kleinen Republiken liegen nicht nur geografisch wie klimatisch zwischen Skandinavien und der untergegangenen UdSSR, sie bezeugen auch vernehmlich deren kulturelle Prägungen.
Während das Lettische und das Litauische zur indoeuropäischen Sprachfamilie gehören, zählt das Estnische zu den finno-ugrischen Sprachen. Speziell in Estland und Lettland sind die Spannungen innerhalb der Bevölkerung klar zu spüren, hier machen die Russen knapp 30 % der Einwohner aus, hier ist das kyrillische Alphabet im öffentlichen Raum überaus präsent. In Litauen bilden die Polen die größte ethnische Minderheit, dementsprechend groß ist der Einfluss der katholischen Kirche. Alle drei Länder pflegen zudem eine lebendige Chortradition, die auf Volkslieder ebenso zurückgreift wie auf Kirchenmusik.
Im Baltikum wähnt sich die wache Besucherin eigentümlich zwischen Gestern und Morgen. So wurde die Internettelefonie Skype in Estland programmiert, wo auch das Verwaltungshandeln fast vollständig digitalisiert ist; verlässt man allerdings die geschmückten Metropolen mit ihren Clubs, Einkaufszentren, Restaurants und Flughäfen, verlangsamt sich das Tempo erheblich, bröckelt der Putz an den Wänden, wird Englisch kaum mehr verstanden geschweige gesprochen. Seitens der Regierungen wird die EU-weit kontingentierte Aufnahme von Flüchtlingen aus muslimischen Ländern vehement abgelehnt; zivilgesellschaftliche Strukturen bilden sich nur zögerlich, Korruption bleibt grenzüberschreitend ein leidiges Thema.
Das Baltikum trägt etwa mit Elīna Garanča, Kristjan Järvi, Iveta Apkalna oder Martynas Levickis zur globalisierten musikalischen Hochkultur bei; abseits dieses Jetset-Exports scheinen Estland, Lettland und Litauen, aller feinen Unterschiede zwischen ihnen zum Trotz, kollektiv hinter der Zeit geblieben. Eine Fahrradtour durch die stille Natur dieses meditativen Winkels voller Seen und Moränen gleicht einer Expedition ins Unbedarfte. Selbst ein hochwertiges Rad kann die Reisende bedenkenlos ohne Schloss am Straßenrand parken – eine im übrigen Europa längst unmögliche Erfahrung.