Die Ambivalenz des Begriffs „Sowjetisches Baltikum“ lag in der geografischen Position begründet, Peripherie der UdSSR und Kontaktzone zu Europa zugleich zu sein. – Karsten Brüggemann, Geschichte der baltischen Länder
Die Invasion Russlands in der Ukraine und der laufende Krieg sind auch als Spätfolgen der Implosion der UdSSR 1991 zu erklären. Der russische Präsident Vladimir Putin ignoriert das Selbstbestimmungsrecht der Völker und sieht über 30 Jahre später die ehemaligen Sowjetrepubliken weiterhin als Teil seiner Einflusssphäre, gar eines großrussischen Imperiums. Estland, Lettland und Litauen haben seit Jahren vor einer russischen Aggression mit ideologischen, technischen und militärischen Mitteln gegen seine Nachbarn gewarnt; völlig zurecht, wie der Überfall der russischen Armee auf die Ukraine belegt. In diesen heftigen Zeiten wird die Erosion des kommunistischen Blocks Ende der 1980er Jahre wieder gegenwärtig – und mit ihm der „Baltische Weg“ in die Freiheit.
Es wurde die längste bekannte Menschenkette der Geschichte, die sich am 23. August 1989 formierte. Geschätzte 2 Millionen Menschen bildeten ein lebendes Band zwischen Vilnius, Riga und Tallinn, den Hauptstädten der litauischen, lettischen und estnischen Sowjetrepubliken. Männer und Frauen, Kinder und Alte, Arbeiter und Wissenschaftler, Funktionäre und Künstler kamen zusammen, um friedlich für die Freiheit und Souveränität ihrer Länder zu demonstrieren. 600 Kilometer maß der sogenannte Baltische Weg, mit Bussen und Privatautos wurden die Menschen an die Strecke zwischen den Metropolen gebracht. Um 19:00 Uhr ergriffen sie sich an den Händen, überall wehten die Trikoloren ihrer Länder, die seinerzeit in der Sowjetunion verboten waren. Fotos und Filme aus Heißluftballonen und Flugzeugen, heute noch bei YouTube zu sehen, demonstrieren die Lückenlosigkeit der Menschenkette entlang der Straßen und Wege der dünnbesiedelten Landschaft.
Das Datum war mit Bedacht gewählt: Am 23. August 1989 jährte sich der Hitler-Stalin-Pakt zum fünfzigsten Mal. Die Außenminister der beiden Diktaturen, Joachim von Ribbentrop und Vjascheslav Molotov, hatten zusätzlich zum offiziellen Nichtangriffspakt ein Geheimes Zusatzprotokoll ausgefertigt, das den nordöstlichen Teil Europas zwischen dem III. Reich und der Sowjetunion aufteilte. Der größere westliche Teil Polens sollte an Deutschland fallen, dessen östlicher Streifen sowie das Baltikum sowie Finnland waren für die UdSSR vorgesehen. Eine Woche später begann mit dem Überfall der Wehrmacht auf Polen der II. Weltkrieg. Am 17. September 1939 marschierte die Rote Armee in Polen ein, ohne dass die westlichen Alliierten, die noch vor Wochen Sicherheitsgarantien an die Adresse Warschaus abgegeben hatten, reagierten. Im Juni 1940 rollten sowjetische Panzer durch Tallinn, Vilnius und Riga, es begann die Annexion Estlands, Lettlands und Litauens durch die Sowjetunion.
1944, nach der Vertreibung der Wehrmacht aus dem Baltikum, wurde die Zwangseingliederung der baltischen Republiken in die UdSSR mit aller Gewalt fortgesetzt. Das Regime unter Josef Stalin ließ Hundertausende Esten, Letten und Litauer nach Sibirien deportieren oder gleich ermorden, im Gegenzug wurden Hundertausende Russen in die baltischen Sowjetrepubliken umgesiedelt. Die kurze Phase staatlicher Souveränität seit 1918 war perdu, mit großer Brutalität wurden Landwirtschaft, Handel, Handwerk und Industrie zwangskollektiviert, private Bankkonten wurden verstaatlicht. Der russische Präsident Vladimir Putin sollte in einer Rede im Juni 2020 absurderweise davon sprechen, der Beitritt der baltischen Republiken zur Sowjetunion sei freiwillig und auf Basis geltender Gesetze geschehen. Das Geheime Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes hat er dabei schlicht unterschlagen, die UdSSR hatte seine Existenz erst im Dezember 1989 eingestanden.
Der Antritt Mikhail Gorbatschows als Generalsekretär der KPdSU im Jahr 1985 stand im Zeichen von Perestroika und Glasnost, Umbau und Offenheit. Gorbatschow wollte die Sowjetunion keineswegs auflösen, vielmehr reformieren; die desaströse finanzielle Lage nach jahrelangem Wettrüsten mit den USA ließ ihm dabei kaum Spielraum. Der wirtschaftliche, kulturelle und politische Wandel setzte Fliehkräfte frei, die die versteinerte Führung in Moskau nicht mehr kontrollieren konnte. Gorbatschow gab die Archive der Partei und des Innenministeriums für die wissenschaftliche Forschung frei und beendete das Exil des berühmten Dissidenten Andrei Sacharow. Im gesamten Ostblock gärte es Ende der 1980er Jahre, auch innerhalb der Sowjetunion entdeckten entgegen der Doktrin der Völkerfamilie einzelne Republiken ihre nationalen Wurzeln, vorneweg die Balten, die sich weitgehend als Fremdkörper in der russisch-slawisch geprägten UdSSR empfanden. Der Erzbischof von Krakau Karol Wojtyla, seit 1978 Papst Johannes Paul II. in Rom, war für viele Menschen in Polen und im ganzen Sojus ein Versprechen auf Freiheit und ein Ende des kommunistischen Jochs.
In Estland, Lettland und Litauen waren seit Mitte der 1980er Jahre Umweltgruppen aktiv, die den spärlich wachsenden Freiraum auch zur politischen Kommunikation zu nutzen verstanden; die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl vom April 1986 diente dabei als Katalysator. Die Organisation des „Baltischen Weges“ zum 23. August 1989 war eine logistische Meisterleistung, zahlreiche lokale Gruppen griffen in einer beispiellosen konzertierten Aktion ineinander, die in nur fünf Wochen vorbereitet wurde. Lange vor der Zeit der Messenger, der Webseiten, des WLAN und der Mobiltelefone lief die Kommunikation dezentral über kleine Gruppen, deren Mitglieder sich aus kulturellen Zusammenhängen kannten und nolens volens in der Subversion geschult waren. Ein mehrtägiges Liederfest in Tallinn, bei dem tradierte estnische Volkslieder auf dem Programm standen, avancierte zum Probelauf; hier kamen im Juni 1988 rund 150.000 Menschen zusammen, der Begriff der „Singenden Revolution“ war geprägt. Zur selben Zeit erinnerten auch in Riga etwa 100.000 Menschen bei einer Demonstration an die Opfer der Deportationen unter Josef Stalin.
Die erhaltenen visuellen Dokumente des Baltischen Weges vermitteln den Eindruck eines Festes. Die Menschen folgen keinem Aufruf der Partei, scharen sich nicht um einen Redner, sondern mobilisieren sich selbst. Sie stehen dicht an dicht aneinandergereiht, halten einander an den Händen und lachen, viele Frauen tragen die traditionellen Trachten aus bestickten Blusen und langen Röcken. Auf den Gesichtern sind Freude, Erwartung, Hoffnung und Rührung zu sehen, immer wieder werden auch die Fahnen der Länder geschwenkt, die zu Sowjetzeiten verboten waren. Viele Menschen tragen Kofferradios bei sich, um über die offiziellen Nachrichten zu erfahren, wie viele Menschen an den unterschiedlichen Streckenabschnitten zusammengekommen sind. Auch das Wetter spielt mit an diesem milden Mittwochabend. Nur wenige Transparente werden hochgehalten, dabei das lateinische Alphabet und die estnische, lettische und litauische sowie die englische Sprache benutzend. Kein Podium, kein Megafon, kein Marschieren, allein die Anwesenheit spricht für sich. Vereinzelt sind Polizisten zu sehen, die den Autoverkehr regeln, Soldaten zum Verhaften der Teilnehmer sucht man vergebens. Die Bilder der Menschenkette werden im sowjetischen Fernsehen gezeigt, wenn auch mit dem Vorwurf des Nationalismus kommentiert.
Im Herbst und Winter 1989/90 kippten die Regime der Staaten des Warschauer Paktes wie die Dominosteine um, der kommunistische Block zerbröselte. Im Januar 1990 bildeten etwa 450.000 Menschen in der ukrainischen SSR eine Menschenkette von Kiew nach Lemberg, um für die Unabhängigkeit der Ukraine zu demonstrieren. Im März 1990 erklärte das litauische Parlament Litauen für unabhängig, im Mai 1990 sprachen Riga und Tallinn von einer „Übergangsperiode“ zur Souveränität. Doch die Moskauer Zentralgewalt war nicht gewillt, die abtrünnigen Republiken ziehen zu lassen. Im Januar 1991 besetzten sowjetische Soldaten strategisch wichtige Ziele in Vilnius und töteten 14 Zivilisten, in Riga wurden fünf Menschen von der Armee erschossen; Ende des Monats demonstrierten 100.000 Menschen in Moskau für die Unabhängigkeit des Baltikums. In den drei Republiken sprachen sich bei Referenden im März 1991 mehr als drei Viertel der Menschen für die staatliche Selbstständigkeit aus. Am 6. September 1991, wenige Wochen nach dem gescheiterten Putsch gegen Gorbatschow, akzeptierte Moskau die Unabhängigkeit Estlands, Lettlands und Litauens, am 17. September wurden die jungen Staaten in die Vereinten Nationen aufgenommen. Am 26. Dezember 1991 löste sich die Union der sozialistischen Sowjetrepubliken schließlich auf, die Russische Föderation wurde ihre Rechtsnachfolgerin.
Das Trauma der sowjetischen Besatzung ist das einigende Band der Anrainer der Baltischen See. Mögen Esten, Letten und Litauer auch durchaus verschieden sein, in ihrer Sensibilität um die Bedrohung ihrer Freiheit durch Russland wissen sie sich geeint. Die Mitgliedschaft in der EU und der NATO jeweils seit 2004 wird in den Ländern als Lebensversicherung vor einem Angriff Russlands gesehen. Wozu die Russische Föderation militärisch fähig und willens ist, hat sie in den 1990er Jahren in Tschetschenien gezeigt, 2008 in Georgien und 2014 auf der Krim. Die baltische Freiheit ist jung genug, um sich als schützenswert und zerbrechlich zu erleben; der Krieg in der Ukraine gibt den Mahnern in Tallinn und Riga recht, die unter ihrer Bevölkerung jeweils rund 25 % ethnische Russen wissen, für die „da zu sein“ Präsident Putin versprochen hat. Vilnius verweist auf den Korridor von Suwalken, die gerade 60 Kilometer lange Grenze zu Polen, die von russischen Truppen rasch kontrolliert werden könnte, um das Baltikum territorial von Europa abzuschneiden. Der „Baltische Weg“ der Freiheit ist mit 1989/91 nicht beendet, im Gegenteil. Die kleinen Länder im Schatten Russlands gehen ihn jeden Tag weiter, mit allem, was sie haben.