Barbarossa

  Hitler war schlecht beraten, Krieg gegen ein Regime zu führen, dem die Massengewalt zur zweiten Natur geworden war und dessen Soldaten mit dieser Gewalt umzugehen verstanden. – Jörg Baberowski

Die elementare Frage dieses Krieges im Kriege ist jene nach dem Grund. Bei Lichte besehen, war es ein von vornherein zum Scheitern verurteilter Feldzug, als am frühen Morgen des 22. Juni 1941 rund 3 Millionen deutsche Soldaten in Begleitung etlicher Panzer, Lastwagen, Pferde und Flugzeuge die Grenze der Sowjetunion überschritten und in drei Heeren Richtung Leningrad, Moskau und südliche Wolga zogen. Sie sollten auf Befehl Adolf Hitlers die Rote Armee besiegen, sowjetische Soldaten und Zivilisten töten oder versklaven und die Weite des russischen Reiches zum „Lebensraum“ des deutschen Volkes machen. Vier Jahre später waren rund 25 Millionen sowjetische Männer, Frauen und Kinder tot, vom Deutschen Reich blieb nur ein kokelnder Trümmerhaufen.

Dass Adolf Hitler, Reichskanzler seit 1933, in seinem Rassenwahn davon träumte, den „jüdischen Bolschewismus“ von der Erde zu tilgen, konnte jeder wissen, der „Mein Kampf“ von 1924 gelesen hatte. Das Deutsche Reich hatte nach einer mörderischen Aufrüstung in den 1930er Jahren im August 1939 noch einen Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion geschlossen, der nebenbei die Aufteilung Nordosteuropas zwischen der nationalsozialistischen und der kommunistischen Diktatur regelte. Als die Wehrmacht am 1. September 1939 Polen überfiel, hielt die UdSSR erwartungsgemäß still und ließ die deutschen Truppen bis weit nach Polen einmarschieren, während sie selbst das Baltikum und den polnischen Ostteil annektierte (ohne dass England und Frankreich Stalin für diese Aggression den Krieg erklärten). Hitler hatte diesen Vertrag geschlossen, um einem Zwei-Fronten-Krieg möglichst lange aus dem Weg zu gehen; Stalins Motivation war der Zeitgewinn für die Vorbereitung auf den als unausweichlich betrachteten Krieg mit Deutschland.

Im Juni 1941 befand sich Deutschland bereits seit 22 Monaten im Krieg, der unter anderem dazu führte, dass es Lebensmittel, Kleidung, Hygieneprodukte und Haushaltswaren nur noch auf Bezugsschein gab. Die Wehrmacht hatte Polen und die Tschechoslowakei im Handumdrehen genommen, Belgien und die Niederlande überrannt, Frankreich zu zwei Dritteln besetzt, dazu Norwegen und Finnland als Aufmarschbasis benutzt. Außerdem hatte das III. Reich die Luftschlacht gegen England eröffnet, der Kriegseintritt der USA gegen das nationalsozialistische Deutschland und seine Verbündeten Spanien, Italien und Japan schien nur eine Frage der Zeit. In dieser angespannten Situation auch noch die riesige Sowjetunion zu überfallen und bis zu einer gedachten Linie von Archangelsk bis Astrachan okkupieren zu wollen, kam einer grotesken Überdehnung der eigenen militärischen, logistischen, finanziellen und emotionalen Ressourcen gleich. Umso schlimmer, dass kein einziger General aus dem Führungsstab der Armee Hitler gegenüber Zweifel gegenüber dem „Unternehmen Barbarossa“ genannten Krieg geäußert hatte, weder ethische noch technische. Ganz im Gegenteil, die Fachleute und Handwerker der Kriegsführung ließen sich willfährig einspannen in Hitlers Vernichtungsfantasien gegenüber den slawischen Völkern und arbeiteten seit Anfang 1940 an detaillierten Plänen für den Angriff im Osten, um dessen zerstörerisches Ziel sie wussten.

In den ersten Wochen nach dem gewaltsamen Grenzübertritt schien sich die Wehrmacht auf sowjetischem Territorium so mühelos zu bewegen wie beim Manöver im heimischen Garten. Rasch stießen die deutsche Verbände Hunderte Kilometer vor, Dorf um Dorf einnehmend, von der durch Kollektivierung und Hunger traumatisierten sowjetischen Bevölkerung anfangs als Befreier gefeiert. Der fehlende militärische Widerstand hatte zum einen mit dem selbst verschuldeten Verlust der kompletten Generalität durch den Großen Terror der Jahre 1936/38 zu tun, zum anderen mit Josef Stalins Starrsinn, den zahlreichen Berichten seiner Agenten im Frühjahr 1941 über den bevorstehenden Angriff der Deutschen nicht zu glauben. Wie paralysiert hockte der rote Diktator auf seiner Datscha in Kunzewo, während die Deutschen Richtung Leningrad zogen, Smolensk eroberten und vor Kiew standen. Erst Mitte Juli besann sich Stalin und wandte sich über Radio an die Völker der UdSSR. Er sprach vom Großen Vaterländischen Krieg, der dem Land schicksalhaft bevorstehe, für den es alle Kräfte zu mobilisieren gelte. In einer beispiellosen Kraftanstrengung wurden Industriebetriebe aus dem europäischen Teil des Sojus abmontiert und östlich des Urals verschafft, parallel dazu lief die Produktion des neuen Panzers T-34 sowie der Katjuscha-Raketen auf Hochtouren.

So sehr das „Unternehmen Barbarossa“ anfangs nach einem weiteren erfolgreichen deutschen „Blitzkrieg“ aussah, so zwingend waren dann sein witterungsbedingtes Stocken und schließliches Scheitern. In den Regengüssen des Herbstes 1941 verwandelten sich die lehmgestampften Landstraßen Russlands in zähen Morast, wie man es bereits bei Anton Cechov nachlesen konnte. Die Schienenspur der sowjetischen Eisenbahn war breiter als die der kontinentalen, sodass es kostbare Zeit verschlang, dringend benötigten Nachschub an der ersten Frontlinie auf sowjetische Waggons umzuladen. Die russischen und ukrainischen Partisanen waren seitens der Militärführung gehalten, Brücken zu sprengen sowie Felder und Ölquellen niederzubrennen, damit den Deutschen in der endlosen Weite des Geländes weder Nahrung noch Benzin in die Hände fielen. Den Rest besorgte der früh einbrechende Winter 1941 voller Schnee und Frost, für den die deutschen Soldaten überhaupt nicht ausgerüstet noch eingekleidet waren. Die Wehrmacht erlitt das gleiche Los wie die Grande Armee unter Napoleon 1812 bei ihrem Russlandfeldzug, der von einem Eroberungskrieg zu einer sinnlosen Abnutzungsschlacht unter Missachtung aller völkerrechtlichen Standards ausartete.

Im Treptower Park in Berlin erinnert ein Ehrenmal an den Krieg der Roten Armee gegen die deutsche Wehrmacht. Die weitläufige Anlage, die den ursprünglichen Baumbestand und die Parkwege aufnimmt, wurde 1949 eingeweiht und ist zugleich Friedhof für etwa 7.000 sowjetische Soldaten, die in der Schlacht um Berlin 1945 gefallen sind. Von Nordwesten kommend, betritt die Besucherin die sakral wirkende Anlage durch eine Art Tor, das aus zwei diagonal abfallenden ziegelroten Wänden besteht, die das Signet der Sowjetunion, Hammer und Sichel tragen. Parallel zur axial ausgerichteten Wiese stehen symbolisch beige Sarkophage, die die gefallenen Soldaten ehren. Am südöstlichen Ende des Areals steht als Blickfang auf einem erhöhten Sockel auf einem künstlichen Hügel die pompöse Skulptur eines jungen Soldaten, der ein gerettetes Kind im Arm hält, das Schwert in der anderen Hand nach erfolgtem Sieg sinken lässt, unter seinen Füßen ein zerborstenes Hakenkreuz, das Signet des III. Reiches. Die von Ferne an den Drachentöter Georg gemahnende schwarze Gestalt ist annähernd elf Meter hoch, rund 70 Tonnen schwer und aus purer Bronze. Sie wurde 1949 in Leningrad gefertigt und in sechs Segmenten über den See- wie Landweg nach Berlin gebracht.

Die Idylle, die über der Parkanlage liegt und die gerade im Sommer unter den Platanen einen schattigen Platz der Erholung offeriert, steht für die eindimensionale Lesart sowjetischen respektive russischen Gedenkens an den II. Weltkrieg. Dieser beginnt für Russland 1941 und endet mit der Zerschlagung des nationalsozialistischen Deutschlands im Mai 1945. Josef Stalin wird in dieser Erzählung wider historisches Wissen als allein für den Sieg verantwortlicher Generalissimus dargestellt, dessen Strategie zu kritisieren Offiziere in den Gulag brachte, wie etwa Alexander Solschenizyn. Stalins taktische Klugheit bestand darin, zur Verteidigung der russischen Erde aufzurufen und nicht des verhassten bolschewistischen Systems. Auch kommt bei der Heroisierung des sakrosankten „Großen Vaterländischen Krieges“ die Rolle der USA als Teil der antifaschistischen Allianz zu kurz – zu sehr ist das Sowjetische Ehrenmal bereits ein Verweis auf die Systemkonkurrenz des beginnenden Kalten Krieges. Die maßlose Enttäuschung im Inneren des sowjetischen Imperiums ist in keiner Weise abgebildet: Nach der Befreiung vom Joch der deutschen Aggressoren wurden die Zügel straffer angezogen denn je, Millionen Menschen wurden als vermeintliche oder tatsächliche Kollaborateure, Deserteure, Spione oder Saboteure erschossen oder in die Arbeitslager deportiert, die Zahl der Häftlinge in den Bergwerken und Minen Sibiriens erreichte Ende der 1940er Jahre ihren traurigen Höchststand.

Die Koalition der Alliierten gegen Hitler zerfiel im Moment ihres Triumphes, weltanschauliche Differenzen traten mit dem Schweigen der Waffen und der Neuziehung der Grenzen der Blöcke auf der Konferenz von Potsdam im Juli 1945 offen zutage. Je weiter das „Unternehmen Barbarossa“ und der „Große Vaterländische Krieg“ in der Vergangenheit versinken, desto rigider wird das Gedächtnis an jene Epoche von der aktuellen russischen Regierung instrumentalisiert. Der russische Präsident Vladimir Putin nennt sich nicht umsonst wie bereits Josef Stalin „Woschd“ (Führer), er stellt sich aus Gründen der Legitimation seiner autoritären Herrschaft nach innen in eine Linie der Landesverteidigung gegen „den Westen“. Im heutigen Berlin kann man in Charlottenburg, Wilmersdorf, Mitte und Marzahn an jeder dritten Ecke Russisch hören; junge und alte Menschen aus dem kollabierten Sozialismus der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) leben an der Spree und gehen ihren Geschäften, Studien und Lieben nach. Dass diese geschätzten 170.000 bis 220.000 Menschen heute ihren Platz im Herzen des ehemaligen Feindes sehen, darf von den Deutschen durchaus als Gunstbeweis verstanden werden. Das Leben geht weiter auch nach der schlimmsten Schuld, im Krieg gibt es nur Verlierer. Jede Generation steht unmittelbar zu Gott – diese Zuversicht haben weder Hitler noch Stalin trotz aller Scham und allem Schmerz auslöschen können.