Das erste, was Sascha nach vier Wochen Urlaub beim Betreten ihres Büros erlebt, ist das Lärmen und Vibrieren der Baumaschinen. Sie öffnet die Fenster zum Lüften und sieht wie aus einer Loge im dritten Rang den Erdarbeiten auf der Brache in bester Lage zu. Mehrere Bagger auf Kettenrädern bewegen sich emsig im aufgewühlten Gemisch aus Lehm, Wasser und Sand; der eine schaufelt Erdaushub auf die Fläche eines wartenden LKW, der andere zerstößt mit einem eisernen Stößel Betonkuben von der Größe einer Badewanne in Bruchstücke von der Größe eines Basketballes, ein weiterer reißt mit einer gewaltigen Zange die Stahlstränge aus den Brocken. Die Tiefbauarbeiten zur Vorbereitung der eigentlichen Konstruktion laufen seit Dezember 2020, die heftigen Erschütterungen haben bereits für Risse im Mauerwerk der angrenzenden Gebäude gesorgt, die auf den Plan gerufene städtische Bauaufsicht gibt unter Auflagen weiter Grünes Licht.
Bauherr dieses Objektes auf dem Grundstück Unter den Linden, auf dem bis zum seinem kriegsschädenbedingten Abriss das Reichsinnenministerium stand, ist die Polnische Botschaft. Der bisherige Bau, ein Werk der Architekten Emil Leibold und Chlotar Seyfarth, errichtet 1963/64, stellte einen nüchternen Gegenentwurf zur opulenten Russischen (ehemals Sowjetischen) Botschaft vis-à-vis dar. Der schmucklose Zweckbau mit monoton gerasterter Fensterfront an höchst repräsentativer Stelle wurde 2016 abgerissen; mit der Bezugsfertigkeit der Nachfolgerin wird frühestens Anfang 2023 gerechnet. Diese Baustelle, die das tägliche Arbeiten in den umliegenden Büros permanent lärmend begleitet, befindet sich in guter Nachbarschaft im Parlamentsviertel. Auf gleich drei Nachbargrundstücken von Saschas Büroflügel werden neue Gebäude hochgezogen, neben der Polnischen Botschaft baut der Bundestag neue Liegenschaften für die Verwaltung. Zudem soll nördlich des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses noch in diesem Herbst ein Büroturm übergabefertig sein, der Kern ist aus vorfabrizierten Betonplatten, die vorgehängte Fassade aus Holz.
Sascha hat ihre Bürowabe in einem geschichtsträchtigen Gebäude. Das Haus an der Dorotheenstraße wurde 1937 nach Entwürfen des Architekten Konrad Nonn als Erweiterungsbau des Reichsinnenministeriums errichtet, die Fenster der Fassade sind mit beige-grauem Sandstein eingefasst, ein säulengetragener Baldachin am Eingang sorgt für gebührenden Ernst. Als Schmuck der Marmorportale der repräsentativen Sitzungsräume im Erdgeschoß fand das Hakenkreuz eine spezifische Verwendung. Zu einem mäanderähnlichen Ornament gereiht, durchzieht es in goldgefasster Gravur den schwarzen Marmor des oberen Rahmensystems. Während die NS-Embleme außerhalb und innerhalb des Gebäudes nach Kriegsende demontiert wurden, wurden die Portalstürze des Gebäudes, das der DDR als Justizministerium diente, hinter einer Verkleidung verborgen. Erst im Zuge der Sanierung des Hauses im Jahr 1998 stieß man auf den Hakenkreuz-Fries. Im vorgefundenen Zustand belassen, erinnert er an die Entstehungszeit des Hauses.
Betritt man das Gebäude über die Dorotheenstraße, geht der Blick auf einen rechteckigen Innenhof, der von drei Etagen umschlossen wird. Hier parken vornehmlich Fahrräder, gelegentlich auch die Limousine eines Altbundespräsidenten, der in der Liegenschaft seine Arbeitsräume hat. Die gewendelten Treppenhäuser, die zu beiden Seiten des Eingangs nach oben gehen, sind großzügig angelegt, große Fenster lassen reichlich Licht ins Haus. Die dominante Schmuckfarbe ist das Schiefergrau des Marmors, der sich an den Türfassungen ebenso findet wie an den Leisten und Fensterbänken. Heute beherbergt der Komplex an der Dorotheenstraße Büros für Abgeordnete und ihre Mitarbeiter sowie für Verwaltungsbeamte des Bundestages. Das gilt auch für das Gebäude an der Schadowstraße, das über einen Durchgang mit der Dorotheenstraße verbunden ist. Die Deckenhöhe beträgt rund 3,5 Meter, auf den langen Gängen lastet die emsige Stille dienender Betriebsamkeit. Im rechten Winkel treffen die Zimmerflure auf einer weitgefassten Treppenebene mit schmiedeeisernem Geländer aufeinander. Ganz am südlichen Rand des Hauses Unter den Linden findet sich ein pompöses Treppenhaus aus blassrotem Marmor, allerdings ohne Zugang von außen; seinerzeit sicherlich als prunkvoller Eingang vom Boulevard her genutzt, verkommt es beim heutigen Zuschnitt des Gebäudes zu einer Grabkammer der Zeit.
Nach dem Hauptstadtbeschluss vom Juni 1991 stand der Bund vor der herkulischen Aufgabe, neben den Ministerien und der Regierung auch dem Parlament entsprechende Arbeitsräume in unmittelbarer Nähe zum Reichstagsgebäude zu schaffen. Die Erschließung des Parlamentsviertels, das während der Teilung der Stadt zu einem innerstädtischen Niemandsland verkommen war, begann nach der Reichstagsverhüllung durch Christo und Jeanne-Claude 1995. Der von Norman Foster renovierte Reichstag, Sitz des Plenarsaals des Bundestages, war 1999 bezugsfertig; im Kanzleramt gegenüber, einem Entwurf von Axel Schultes und Charlotte Frank, konnte 2001 die Arbeit aufgenommen werden. Das Jakob-Kaiser-Haus (JKH) mit seinen Abgeordnetenbüros wurde 2002 fertig, das Paul-Löbe-Haus (PLH) mit seinen großen Sitzungssälen bereits ein Jahr früher. Das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus (MELH) auf der östlichen Spreeseite wurde schließlich 2003 eingeweiht; am 2010 begonnenen Erweiterungsbau kam es wiederholt zu Wasserschäden, seine Übergabe ist für Ende 2021 anvisiert.
Das nun gut 20 Jahre alte Parlamentsviertel ist im großen Ganzen eine städtebaulich gelungene Angelegenheit. Das Areal wird seinem Ruf gerecht, ein Parlament der kurzen Wege zu sein; ein unterirdischer Versorgungstrakt von JKH und PLH zum Reichstag wird auch rege von den MdB und ihren Schatten genutzt. Der Stilmix der Bürokomplexe ergibt ein halbwegs harmonisches Ganzes, was auch an der stadteinheitlichen Traufhöhe von 23 Metern liegt. Der Hauptbau, der Reichstag, drängt sich nicht in den Vordergrund, er liegt eher gutmütig in seinem Neoklassizismus plus gläserner Kuppel vor der weitläufigen Wiese. Das Kanzleramt grüßt auf postmoderne Weise, PLH und MELH setzen konsequent auf den Sichtbeton als Funktionsraster und als Gestaltungselement. Die verglaste Fassade des JKH kommt ebenso wie die Front der Wilhelmstraße eher abweisend daher, das Interieur des PLH hat das Ambiente eines Technoclubs. Und Saschas ehrwürdiger Büroriegel zeigt die Qualität der Erstarbeiten; ob die benachbarten Gebäude 80 und mehr Jahre alt werden, wird die Zeit zeigen.
Die Büros in den zahlreichen Liegenschaften haben eine Normgröße von 18 qm und sollen idealiter von einer Person genutzt werden. Der stetig wachsende Bundestag aber (mit gegenwärtig 709 Abgeordneten bei einer Perspektive auf zusätzliche 40 bis 50 Mandate nach der Bundestagswahl im September) und die mitwachsende Verwaltung brauchen schlicht Platz, der ihnen fehlt und sich in Doppelbelegungen zahlreicher Büros niederschlägt. Schon jetzt sind alle verfügbaren Flächen in den angrenzenden Gebäuden zwischen Brandenburger Tor und Friedrichstraße angemietet, die Entfernung zum Reichstag bei Abstimmungen und Sitzungen muss ja für die MdB zumutbar bleiben; die Eröffnung der garantierten zusätzlichen Arbeitsplätze wird sehnlich erwartet. Durch die aktuelle Heimbüro-Praxis kommt es noch zu einer Entzerrung der Präsenz, ein Dauerzustand aber kann das nicht sein.
Den ganzen Tag wird Sascha vom dieselgetriebenen Motorengedröhne begleitet. Sie steht am offenen Fenster und sieht den Bauarbeitern in ihren Hochleistungsgeräten fasziniert zu. Ein zangenartiger Griff eines Baggers packt sich einen mächtigen Betonklotz und zermalmt ihn, als wäre er eine Rübe, in kleine Stückchen; feiner grauer Staub stiebt über die Baustelle. Die Tiefbauarbeiten sind zugleich Recyclingarbeiten. Die Stahlstränge, verbogen und vom Beton befreit, werden wie Wollfäden auf einzelnen Haufen gelagert, ebenso Betonfragmente von der Größe eines Schuhkartons. Diese Wertstoffe werden getrennt gesammelt und einer Weiterverwertung zugeführt, auf dieser Baustelle oder einer der zahllosen anderen dieser Stadt. Währenddessen wälzt sich ein Baggerkollege ein tonnenschweres, meterdickes Teil des Fundamentes zurecht, hebt kurz die Schaufel an und teilt es mit einem einzigen Hieb. Es kreischt beim Treffen von Stahl auf Beton, der abgetrennte Brocken rumpelt stöhnend zu Boden. Bevor hier die Architektur sich à la Vitruv der Schöpfung der Schönheit, der Nützlichkeit und der Festigkeit widmen kann, muss erst Tabula rasa auf dem Baugrund geschaffen werden.
Sascha schaut sich das Baggerballett voller Bewunderung für seine Präzisionsarbeit etliche Meter unter Normalnull an. Die Maschinen sind in schneller Bewegung, fahren sicher über fette Steine, schwenken das Führerhaus um die eigene Achse, fahren die Greifarme meterweit aus und stoßen nicht zusammen. Stahlstrebe landet auf Stahlstrebe, Brocken auf Brocken, Erde auf Erde. Jeder Bauarbeiter weiß mit seinem jeweiligen Kraftwerk virtuos umzugehen, gleichzeitig sieht er, was die Kollegen machen, auf deren Arbeitsergebnisse er wartet. Parallel zu diesem krachintensiven Räumwerk wird an der südlichen Seite der Baustelle Grundwasser abgepumpt. Das Hauptproblem der Grundstücke in Mitte ist ihre Feuchtigkeit, die schon manchen Bau verzögert hat, so den des MELH. Erst wenn die letzten Reste des Vorgängerbaus abgetragen sind, erst wenn kein Wasserschaden zu befürchten ist, erst wenn keine Fliegerbombe des II. Weltkriegs gefunden sein wird, kann man an die Legung des Fundamentes der neuen Polnischen Botschaft denken. Bis dahin haben die Statiker, die Vermessungsingenieure und die Kunststeinfachleute alle Hände voll zu tun. Wenn die Baggerführer ihr Tagwerk beenden, beugen sie den Greifarm und krümmen die Instrumente behutsam zu Boden, nah am Kettenzug, wie ein Tier, das zum Schlafen die Vorderläufe an den Torso winkelt.
Für Sascha ist das permanente Bauen ein Signum der Großstadt. Sie fühlt sich erinnert an die frühen 1990er Jahre, als der Potsdamer Platz nach der Wende zu einer riesigen Baustelle wurde. Abends sahen die Kräne im Scheinwerferlicht wie gigantische Störche beim Nestbau aus, wenn sie Stahlträger und Transportkisten schwenkten und an richtiger Stelle abließen. Der Potsdamer Platz mit seiner sterilen Investorenarchitektur, die keinerlei Rücksicht auf das bereits Vorhandene an Gebäuden, Straßen und Verkehr nimmt, ist eine leblose Zone geworden, die nur von Touristen heimgesucht wird. Nördlich des Hauptbahnhofes wächst gerade das Europaviertel aus dem märkischen Sand, das sich auf Bürokomplexe, Tiefgaragen und Luxuslofts beschränkt und sich mit der Stadt und ihren Bedürfnissen kein bisschen auseinandersetzt. Umso mehr freut sich Sascha, dass sie in einem Altbau, der technisch und infrastrukturell auf die Höhe der Zeit gebracht ist, arbeiten darf. So hat sie das Gefühl, dass nicht in jedem Werden bereits sein Vergehen angelegt ist – Architektur als Geste gegen das Wirken der Zeit. Die neue Polnische Botschaft wird die Adresse der alten behalten.
Sie ist immer wieder erstaunt, wie es Menschen gelingt, mit einer Mischung aus Zement, Wasser und Gesteinskörnungen unter Schütteln und Mischen Beton, also Kunststein, zum Bau stabiler Formen und Körper zu erstellen. Die Baustelle ist nicht länger das Gefängnis des Sisyphos, die Künstler der Schaufel, von denen Warlam Schalamow gruseliges Zeugnis ablegte, sind ersetzt durch Virtuosen der Planung, der Ressourcenveredelung und der Lastensteuerung, ohne die ein Architekt nur Luftschlösser baute, und die wie Chirurgen oder Köche ihre Rohstoffe vorfinden und ein Artefakt hinterlassen. Die Baustelle vor Saschas Fenster ist eine Mischung aus Lehmgrube, Abraumhalde und Steinbruch; in anderthalb Jahren soll hier der konsularische Betrieb der Republik Polen anlaufen. Die jetzigen Arbeiten wird man dereinst dem Neubau nicht ansehen, unverzichtbar für sein Funktionieren sind sie allemal.