Beerdigung

  Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel? – 1 Kor 15,55

Der Tod ereilte ihn am Karfreitag, dem Datum des Todes auch seiner Mutter. Rafael starb an einer Lungenentzündung im Alter von gerade 51 Jahren, nach einem Leben als Pflegefall, dazu geworden durch einen Impfschaden im Kleinkindalter. Kerstin erfuhr vom Tod ihres Cousins am Ostersamstag, sie wünschte sich bei seiner Beerdigung dabei zu sein und konnte es ohne Schwierigkeiten einrichten. Auch wenn sie Rafael das letzte Mal vor vielleicht vier Jahrzehnten bei einer Weihnachtsfeier im Kreise der Familie gesehen haben mochte, war es ihr ein Bedürfnis, sich vom Ersten aus der Enkelreihe zu verabschieden.

In seinem Fall lag es nahe, den Tod als Erlösung zu verstehen. Die geistige Behinderung, die einen dauernden Aufenthalt in einer stationären Einrichtung notwendig machte, hinderte ihn an einem selbstständigen Leben mit einem Beruf und einer Familie. Diese tristen Umstände ändern allerdings nichts am Verlust, den der Vater und die beiden Brüder mit seinem Tod erlitten. Mag sich bei ihnen nun auch Erleichterung breitmachen, dass sie sich um Rafaels Betreuung nicht länger mehr zu sorgen brauchen, ist es doch ein vertrauter, geliebter Mensch, der nun nicht mehr da ist, sondern eine Leiche mit dem Schicksal der Verwesung.

In den 1960er Jahren wurden Kerstins Großeltern väterlicherseits elf Enkelkinder geboren. Diese illustre Schar kam zur Feier der Weihnacht und an Geburtstagen im Haus der Großeltern zusammen, das auch der Mittelpunkt der wachsenden Familie blieb, nachdem der Großvater verstorben war. Kerstins Eltern zogen mit ihren beiden Töchtern in das Haus mit dem großen Garten und hatten ihre Geschwister, Schwägerinnen sowie Neffen und Nichten oft zu Gast. Bereits bei den Kindern und Jugendlichen zeigten sich die Unterschiede, die sich im Erwachsenenleben ausprägen sollten. Stille waren ebenso dabei wie Großspurige, Einzelgänger und Gruppenmenschen, Bodenständige und Weltreisende, Erfolgsorientierte und Träumerinnen. Rafael wurde von Beginn an jede Chance genommen, er war nach dem seinerzeitigen Namen einer großen Hilfsorganisation ein Sorgenkind.

Aus dieser Gemeinschaft ist er nun der erste, der der Erde übergeben wird. Getauft wenige Wochen nach der Geburt, jetzt mit einem Seelenamt von dieser Welt verabschiedet, ist er der abwesend Beteiligte an der Trauerfeier, in seinem hellen Sarg vor dem Altar liegend, umgeben von opulentem Blumenschmuck. Nach der Kommunion und dem Segen spricht der Priester noch in der Kirche die rituellen Abschiedsformeln, bevor sechs Männer in Schwarz und mit weißen Handschuhen den Sarg gemessenen Schrittes zum geöffneten Grab tragen, wo die vor Jahren verstorbene Mutter auf ihren jüngsten Sohn zu warten scheint. Die unverstärkte Stimme des Priesters auf dem Friedhof trägt weit genug, die Trauergemeinde ist überschaubar, neben Onkeln, Cousins und Cousinen geben ehemalige Nachbarn Rafael das letzte Geleit. Eine nach der anderen treten sie ans Grab heran, schaufeln einen Klumpen Erde auf den Sarg in zwei Metern Tiefe, streuen eine Handvoll Rosenblätter hinterher und schlagen (nicht alle) das Kreuzzeichen. Die Anteilnahme gegenüber Vater und Brüdern erfolgt durch Blicke und Gesten, Corona sei Undank.

Alle vier Elemente sind als Markierungen der Existenz vertreten. Der Kopf des Säuglings wird während der Taufe mit Wasser übergossen, der Geist ist die treibende Kraft auf dem Weg des Lebens, das Feuer der Kerze ist bei Entscheidungen an Gabelungen dabei und erinnert an die bereits Gegangenen, die inmitten der Erde zerfallen als Würmerkost. Während die leibliche Gestalt der Auflösung anheimgegeben ist, wenn Atmung, Herzschlag und Hirntätigkeit dereinst stillstehen, lebt die Seele im christlichen Glauben weiter, wie es im Credo nach der Predigt rezitiert wird. Dabei ist das Grab ein Ort, der das Gedächtnis an einen Verstorbenen erleichtert; dieser findet seinen Platz in den Gedanken und Träumen der Weiterlebenden, wie es auch Abwesende in weiten Städten und auf entfernten Kontinenten tun.

Hinter den blauen Lappen und den gebleichten Kaffeefiltern über Nase, Kinn und Mund kann Kerstin die meisten Anwesenden problemlos identifizieren. Einige sind hell-dunkel gescheckt im Schopf, andere schon vollständig friedhofsblond, einige federn mit geradem Rücken, andere brauchen den Arm des Nebenmannes oder den Rollator als Stütze. Eine Beerdigung scheint in dieser Zeit der primäre Anlass zu sein, sich im schrumpfenden Familienkreis zu treffen. Dem Innehalten und der Betroffenheit folgen die Appelle, sich auch einmal „so“ wieder zu sehen, die allerdings schon vor Corona mit ihren unseligen Fesseln weitgehend folgenfrei blieben. Kerstin kommt regelmäßig besuchsweise an den Ort ihrer Geburt, wo sich Rafaels Lebensweg vollendet; das Verhältnis zu ihrer Schwester hat sich nach dem Tod der Mutter deutlich gebessert, mit einer Cousine steht sie in regem Austausch, mit einem Cousin telefoniert sie dann und wann, von anderen Verwandten weiß sie hingegen nicht einmal, wo sie leben.

Die Beerdigung, die in der Osteroktav liegt, wird automatisch zur Beschwörung der Auferstehung. Der Kern des christlichen Glaubens gilt der Überzeugung, dass der Tod nicht das letzte Wort habe, dass es ein Reich jenseits irdischer Vergnügen und Beschwerden gebe. Diese Figur kommt Kerstin poetisch vor, gern gibt sie sich dem traditionellen Verweis auf das ganz Andere hin, entstanden in einer grauen Vorzeit magischen Denkens, als die Religion und nicht die Wissenschaft Deutungen des Lebens, seiner Rätsel und seiner Gründe bot. Kerstin spürt, dass es ihr die eigenen Schritte leichter macht, wenn sie darauf hoffen darf, dass der Weg auf der anderen Seite der Grenze weiter führt. Wenn sie am Grab ihrer Mutter steht, ist diese in ihren Gefühlen anwesend, alterslos und ewig und nah.

Der Tod der Anderen wird unweigerlich zum Memento mori, die Beerdigung dokumentiert nüchtern das Voranschreiten der Zeit. Dabei sind das Sterben und das Lebensende mit Kategorien des Verstandes nicht zu fassen. Die statistisch bewilligte Zahl an Jahren ist das eine, wann die jeweils letzte Stunde schlägt, ist das andere. Kerstin steht am offenen Grab ihres Cousins, gibt ihm ein stummes Gebet hinterher und bekreuzigt sich instinktiv. Heimlich vergleicht sie ihren Reifestand mit dem ihrer Cousinen und Schwägerinnen und darf sich in puncto Verfall noch im Diesseits wähnen. Doch kann es schlagartig geschehen, dass aus den vielen gedachten Möglichkeiten eine Endlichkeit wird. Die Erbauung einer Beerdigung liegt im Entschluss, die verbliebene Zeit zu achten und zu nutzen. Einer ihrer Cousins bittet um Entschuldigung, dass wegen der Pandemie-Maßnahmen die Kaffeetafel ausfallen müsse, will sie aber nachgeholt wissen. Begütert mit den besten Wünschen, gehen die Trauergäste langsam auseinander, in ihren Gedanken allein.