Jeszcze Polska nie zginęła – Erster Vers der polnischen Nationalhymne
Der Begriff der Befreiung wird im deutschen Sprachgebrauch mit dem Ende des II. Weltkriegs und dem Zusammenbruch des NS-Regimes 1945 assoziiert. In seiner berühmten Rede zum 8. Mai 1985 im Deutschen Bundestag sprach der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker erstmals von einem Tag der Befreiung, als der der Termin der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht zu verstehen sei. Die Lesart eines historischen Datums kann auch anders ausfallen, wie es das Buch „Nach der Befreiung“ der polnischen Philosophin Barbara Skarga illustriert. Der Untertitel dieses Buches „Aufzeichnungen aus dem Gulag 1944 – 1956“ ist dazu beredt genug, gemeint ist hier die Entlassung aus sowjetischer Gefangenschaft.
Barbara Skarga wurde 1919 in eine begüterte polnisch-litauische Familie geboren; ihr Vater war ein Versicherungsjurist, eine Tante verfügte über ein großes Anwesen in der Nähe von Vilnius. Barbara Skarga genoss wie ihre Schwester eine humanistische Erziehung mit Musik und Literatur, lernte Griechisch, Latein, Französisch sowie Deutsch und glänzte in der Schule in Mathematik. Nach dem Abitur nahm sie auf Wunsch der Eltern ein Studium der Elektrotechnik auf, das sie jedoch nach drei Semestern zugunsten der Philosophie in Vilnius aufgab. Der Überfall der deutschen Wehrmacht im September 1939 und die Aufteilung des erst 1919 wieder unabhängig gewordenen Polen zwischen dem III. Reich und der Sowjetunion beendete jäh das frohe Leben als Studentin; Skarga arbeitete in der Folge als Stuckateurin und Wandmalerin, um sich und ihre Familie im Krieg durchzubringen.
Parallel hierzu schloss sie sich der Armija Krajowa, der nichtkommunistischen polnischen Widerstandsarmee, als Kurierin an. Im September 1944 wurde sie von Soldaten der Roten Armee verhaftet und in einem Scheinprozess der Kollaboration mit den Nationalsozialisten für schuldig befunden. Nach zwölf Jahren der Zwangsarbeit in sowjetischen Lagern und einer Kolchose in Kasachstan konnte sie nach Polen zurückkehren und ihr Studium der Philosophie fortsetzen, unter anderem beim zehn Jahre jüngeren Leszek Kolakowski. Nach ihrer Promotion arbeitete sie an der Universität Warschau, sie beschäftigte sich gänzlich unmarxistisch mit dem Positivismus und publizierte zu Auguste Comte und Henri Bergson. 1988 wurde sie Chefredakteurin der Fachzeitschrift Etyka und erhielt schließlich eine Professur. Sie engagierte sich in der Oppositionsbewegung Solidarnosc und wurde eine der wichtigsten Intellektuellen des Landes. Barbara Skarga starb 2009 in Altenstein.
Ihre Zeit im Gulag (Akronym aus Glawnoje uprawlenije lagerej, i. e. Hauptverwaltung der Lager) ließ Skarga auch nach ihrer Rückkehr in ihre Heimat nicht los. Sie konzentrierte sich auf ihre akademische Laufbahn, fertigte aber auch Skizzen zu ihrer Lagerhaft an. Der Text „Nach der Befreiung“ entstand Mitte der 1980er Jahre und wurde zuerst 1985 unter dem Pseudonym Wiktoria Krasniewska im Ausland veröffentlicht. Die Autorin erlebte 1990 die erste polnische Ausgabe unter ihrem Namen, wenn auch in einer geringen Auflage. Im Jahr 2022 erschien eine niederländische Übersetzung, die wiederum die Basis der vorliegenden deutschen Ausgabe von 2024 ist. Dass hierfür nicht das polnische Original herangezogen wurde, begründete der deutsche Verlag mit der immensen Schwierigkeit, hiervon ein Exemplar auch nur antiquarisch zu erwerben.
Das Buch „Nach der Befreiung“ reiht sich auf den ersten Blick ein in die kanonischen Werke der Gulag-Literatur, die mit den einschlägigen Texten von Fjodor Dostojewski und Anton Cechov ihre Vorläufer hat und mit Warlam Schalamow, Jewgenia Ginsburg, Angela Rohr und Alexander Solschenizyn ihre bekanntesten Vertreter. Skarga beschreibt die brutalen Verhöre, denen sie nach ihrer Verhaftung unterzogen wird, die Gerichtsfarce ohne jeden anwaltlichen Beistand, die drangvolle Enge in den Gefängniszellen, die groteske Fabrikation der Vorwürfe ohne jeden Beleg, den tagelangen Transport in Viehwaggons in das Arbeitslager im Hohen Norden am Polarkreis. Sie tut das im Tonfall eines sachlichen Protokolls, das auf Dramatisierungen wie Ausschmückungen verzichtet, da die geschilderten Szenen erschütternd und beschämend genug sind. Neben den detaillierten Beschreibungen des Lagerlebens findet die Leserin immer wieder ethische und psychologische Reflexionen des Agierens der Häftlinge wie der Wärter. Vor ihren Augen entsteht eine grausame Welt ohne Ausweg, die nach eigenen Gesetzen funktioniert, deren Übertreten unweigerlich zum Tode führt.
Dabei legt Skarga, anders als die erwähnten Klassiker der Gulag-Literatur, besonderen Wert auf ihre Nationalität als Polin. Sie ist keine Sowjetbürgerin, die nach den Jahren der Oktoberrevolution, des Bürgerkrieges, der Kollektivierung und der Industrialisierung im unbedingten Glauben an den Siegeszug des Sozialismus und ergebener Treue zu den Führungskadern erzogen wurde, sondern eine gebildete Angehörige eines Volkes, das nach den Jahrhunderten der Teilung seines Landes erneut die Erfahrung macht, den räuberischen Gelüsten eines imperialen Nachbarn zum Opfer zu fallen. Das nach Westen verschobene Polen der Nachkriegszeit findet nicht etwa seine Freiheit wieder, sondern wird als Volksrepublik in den sowjetischen Machtbereich in Osteuropa eingegliedert, seine staatliche Souveränität existiert nur auf dem Papier, die Vorgaben zu Politik, Wirtschaft und Kultur aus Moskau müssen umstandslos umgesetzt werden.
Hinter dem Zaun der sowjetischen Lager versammeln sich nach dem II. Weltkrieg nicht nur Kriminelle und – vermeintliche wie tatsächliche – Regimegegner, sondern auch Deutsche, Balten, Italiener, Griechen, Kaukasier, Rumänen, Japaner und eben Polen, die allein wegen ihrer Nationalität inhaftiert werden. Sie alle werden mit dem nicht näher definierten Vorwurf der Spionage konfrontiert, sie gelten als Saboteure und Feinde des Sozialismus. Für diesen Vorwurf reicht es aus, als Soldat etwa in der Schlacht um Berlin gekämpft zu haben oder als Häftling in Buchenwald und selbst Auschwitz gewesen zu sein. Skarga sieht bei den Menschen, die nicht zum Kosmos des Vielvölkerstaates UdSSR gehören, eine unbändige Sehnsucht nach Freiheit, die dem Sozialismus unbekannt sei. Dieser habe seine Untertanen zu Sklaven abgerichtet, die ihr Schicksal nicht mehr hinterfragen und die fortwährenden Schläge nur noch hinnehmen wie ein Stein. Einmal sagt ihr ein Offizier während eines Verhöres, allein dass sie die gegen sie erhobenen Anschuldigungen nicht einfach zugebe, zeige, dass sie eine gefährliche Feindin der Sowjetunion sei und durch schwere Arbeit im Lager gebessert werden müsse.
Der Horror des Lagerlebens wird von Skarga überdeutlich geschildert. Das Essen besteht meist aus einer wässrigen Suppe ohne Fett und Kohlenhydrate, der groben körperlichen Arbeit im Straßenbau, in der Mine und im Forst völlig unangemessen. Die sanitären Bedingungen sind katastrophal, fließend Wasser gibt es kaum, Seife existiert ebenso wenig wie Hygieneprodukte; bei vielen Frauen setzt die Menstruation schockartig aus. Die Arbeitskleidung ist verdreckt und zerlumpt, Nadel und Faden zum Ausbessern sind nur gegen Brot zu bekommen, und auch das nicht immer. Die Baracken sind überbelegt, auf den harten Bohlen gibt es keine Decken und Kissen, die Notdurft müssen sie des Nachts in einem großen Eimer verrichten, der den Raum mit beißendem Gestank durchzieht. Bücher und Zeitungen sind so gut wie nicht zu bekommen, eine Privatsphäre gibt es nicht, selbst eine Stunde des Alleinseins ist undenkbar. Hinzu kommen die Hiebe des Wachpersonals und die Diebstähle der geborenen Kriminellen, die niemals ein Gewissen und eine Tötungshemmung entwickelt haben.
Skarga gibt eine einleuchtende Antwort, warum sie, im Gegensatz zu so vielen Anderen, die Mahr der Lager überlebt hat. Zunächst kann sie aus ihrer akademisch-literarischen Erziehung schöpfen; sie rezitiert liebgewonnene Gedichte und Erzählungen und setzt dergestalt der Rohheit des Lagers einen Anflug von Kultur als Überlebensmittel entgegen. Sodann ist sie von einem starken Willen zur Freiheit durchdrungen, der sie nicht resignieren lässt, sondern das System, das sie knechtet, als das eigentliche Übel identifiziert. Schließlich hat sie schlicht das Glück, als vielseitig gebildete Frau für die Arbeit als Arzthelferin im Lagerhospital und später als Buchhalterin rekrutiert zu werden; diese Tätigkeiten verschonen sie von der verschleißenden Fron mit Hammer, Meißel, Säge und Schaufel, in die der rasche Tod der Häftlinge eingepreist ist. Dessen ungeachtet, hat der Gulag der Autorin die blühenden Jahre einer jungen Frau geraubt; nach ihrer Repatriierung braucht sie Zeit, um den geschundenen und ausgemergelten Körper wieder auf ein gesundes weibliches Niveau zu hieven.
Das Menschheitsverbrechen des Gulag, das bereits kurz nach der Oktoberrevolution mit der Gründung der Tscheka und der Errichtung des ersten Lagers auf den Solowezki-Inseln beginnt und mit der Geheimrede Nikita Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU ein vorläufiges Ende findet, ist weder politisch noch juristisch aufgearbeitet worden; kein Minister, kein NKWD-Offizier, kein Parteisekretär, kein Richter, kein Folterscherge, kein Propagandaautor, kein Ökonom, kein Wachsoldat musste sich jemals vor Gericht verantworten, weder in der Sowjetunion noch im postsowjetischen Russland. Es besteht vielmehr eine traurige Kontinuität von der zaristischen Katorga über den sowjetischen Gulag bis in das Straflagersystem des zeitgenössischen Russland; letzteres lässt Oppositionelle wie Mikhail Chodorkowski oder Alexej Nawalnyi für Jahre verschwinden oder gleich umkommen.
Bis in die 1980er Jahre war die Memoirenliteratur die einzige Quelle zur behutsamen Rekonstruktion des verharmlosend „Repression“ genannten Staatsterrors der UdSSR. Die Zeugnisse der Entkommenen machen deutlich, dass die Errichtung und Befüllung der Lager in allen Winkeln des Riesenreiches kein Unfall auf dem Weg des Aufbaus des Sozialismus war oder als Exzess Josef Stalins zu verbrämen wäre; vielmehr war die Versklavung von Millionen unbescholtener Bürger des Sojus konstitutiv für den ersten sozialistischen Staat der Erde, der auf das nackte Leben seiner Untertanen keinerlei Rücksicht nahm und dem gewaltsamen Sprung von der rückständigen Agrarnation zur Atommacht binnen einer Generation buchstäblich alles unterordnete. Als sich unter Mikhail Gorbatschow die Archive des Innenministeriums, der Partei und der Geheimdienste für die historische Forschung öffneten, konnten Wissenschaftler die subjektiven Befunde der Verurteilten im Großen und Ganzen bestätigen. Wladimir Putin hat dieser Arbeit ein Ende bereitet, ehrenamtliche Organisationen wie Memorial wurden verboten, an die Opfer des Gulags darf noch erinnert werden, an die Täter aus den Reihen der Justiz, der Miliz, der Geheimdienste und der Verwaltung jedoch nicht.
Es ist bezeichnend, dass Barbara Skarga angesichts der Zensur im kommunistischen Polen ihre Erinnerungen unter Pseudonym veröffentlichen musste; dieses Zeugnis wäre unweigerlich als Schmähung des Großen Bruders in Moskau aufgefasst worden. Neben ihrer persönlichen Befreiung 1956 konnte sie 1989 mit den ersten freien Wahlen auch die Befreiung ihres Heimatlandes erleben. Es ist ein unverzichtbares Element autoritärer Herrschaft, die freie Rede, selbstständiges Denken und die Meinungsäußerung kategorisch aufzuheben und an deren Stelle die Illusion nur einer Wahrheit zu setzen. Die Menschen unter dem Joch des Zwangs müssen Strategien entwickeln, das Gemeinte hinter dem Gesagten zu entschlüsseln: „Worte haben diese Macht, Dinge zu verändern, das Absurde in ein Ideal zu verwandeln, Rückschläge in Erfolge und Siege, ein Verbrechen in eine Tugend.“ Ihr Buch zeigt eindringlich, welch monströse Formen eine existentielle Lüge für ein ganzes Volk, ja für einen ganzen Kontinent annehmen kann.