Ich aber erwiderte ihnen, es sei bei den Römern nicht üblich, einen Menschen auszuliefern, bevor nicht der Angeklagte den Anklägern gegenübergestellt sei und Gelegenheit erhalten habe, sich gegen die Anschuldigungen zu verteidigen. – Apg 25,16
Sportlich gesehen ist der laufende Sinquefield-Cup in St. Louis schlagartig uninteressant geworden. Die Schachwelt befindet sich in heller Aufregung, nachdem der teilnehmende Weltmeister Magnus Carlsen das Turnier vor der 4. Runde verlassen und einen seltsamen Tweet abgesetzt hatte. Darin murmelte er, einen Fußballtrainer zitierend, er könne nicht offen reden, ohne gewaltigen Ärger zu bekommen. Seitdem steht die Anklage im Raum, sein Gegner und Bezwinger aus der 3. Runde, Hans Moke Niemann, habe nur durch digitalen Betrug gewonnen.
Magnus Carlsen ist seit über einem Jahrzehnt die klare Nummer Eins der Schachwelt, der 31 Jahre alte Norweger trägt überdies seit 2013 den Weltmeistertitel. Er geht in jedes Turnier, an dem er teilnimmt, als Favorit, viele seiner Partien gewinnt er lehrreich und überlegen; Niederlagen sind entsprechend rar, erst recht mit Weiß gegen Spieler, die knapp 200 Elopunkte weniger aufweisen. In der 3. Runde des Sinquefield-Cups wählte Carlsen gegen den 19 Jahre alten Amerikaner Niemann die ausgesprochen selten gespielte Fianchetto-Variante der Nimzowitsch-Indischen Verteidigung mit 4. g3. Niemann schien bestens vorbereitet, verbrauchte wenig Zeit, traf die kritischen Züge und erreichte ein besseres Endspiel, das Carlsen entgegen seiner exzellenten Technik nicht halten konnte. 0:1.
Man muss ins Jahr 1967 zurückgehen, bevor man einen Spitzengroßmeister findet, der im laufenden Betrieb alles hinwirft. Im tunesischen Sousse beim Interzonenturnier lag Bobby Fischer souverän in Führung, als er noch vor der Halbzeit sich vom Turnier zurückzog, ohne klar kommunizierten Grund. Heuer trat Carlsen zur 4. Runde einfach nicht an, die Kommentatoren vor Ort erfuhren davon erst mit Partiebeginn und waren perplex. Der veranstaltende St. Louis Chess Club, der vom Investor und Mäzen Rex Sinquefield finanziert wird, hat bis heute keine Erklärung zu Carlsens Rückzug veröffentlicht. Dessen Tweet kommt daher als Mischung aus Nebelkerze und Brandbeschleuniger. Es dauerte denn auch nicht lang, und erste Beobachter wollten sicher wissen, dass der Weltmeister seinen jungen Bezwinger des digitalen Betrugs bezichtige – und damit richtig liege.
Seit gut 25 Jahren sind spezielle Computerprogramme im Schach klar besser als Menschen. Sie gehören zum Werkzeugkasten der Profis und auch der ambitionierten Vereinsspieler, sie helfen bei der Analyse der Eröffnung, der Taktik des Mittelspiels und dem Verständnis des Endspiels. Und sicher verführen sie dazu, die Kraft der Prozessoren zur – verbotenen – Unterstützung während einer laufenden Partie zu nutzen. Im Online-Schach kann man dieser Form des Betrugs durch Indizien bei der Analyse mit starker Software im Nachhinein nahe-, manchmal beikommen, beim klassischen Schach am Brett im Turniersaal werden die Spieler wie am Flughafen auf elektronische Geräte durchsucht. Das Klingeln eines Telefons während einer Partie führt zum sofortigen Verlust. Einige mittelklassige Spieler wurden dabei ertappt, als sie auf der Toilette mit einem dort versteckten Smartphone ihre laufende Partie analysierten und so den besten Zug fanden. Ihr Ausschluss auf Jahre vom Wettbewerb ist die Folge, ihr Ruf in der Szene ist auf Dauer beschädigt.
Die Eskalation der Causa Carlsen geht wesentlich auf Hikaru Nakamura zurück, US-Großmeister und Entertainer mit einem Millionenpublikum auf Twitch und Twitter. Mit seinem widerlichen Kaugummiakzent verspottete Nakamura seinen jungen Landsmann und brach, ohne zum Richter berufen zu sein, den Stab über Niemann. Dieser habe bei der Post-Mortem-Analyse der berüchtigten Partie keine Varianten auf Großmeisterniveau präsentieren können; sein Argument, sich das entlegene Abspiel just am Vormittag der Partie angesehen zu haben, sei eine reine Schutzbehauptung. Der Schachmob stieg schäumend auf Inquisitor Nakamuras Suada ein und verdammte Niemann, die Kommentarspalten der einschlägigen Schachportale quellen über mit aggressiven Beiträgen einer Lynchjustiz.
Die Analyse der fraglichen Partie zeigt, dass Niemann mehrfach gute bis beste Züge gemacht hat – was nicht sonderlich überrascht bei einem Spieler der erweiterten Weltspitze (derzeit notiert er auf Platz 49 der Rangliste). Im Endspiel, Carlsens ureigener Domäne, machten Weiß wie Schwarz Fehler, unterm Strich hat Hans Moke Niemann nicht dank der Eröffnung gewonnen, sondern Magnus Carlsen hat das Endspiel verloren. Bis heute hat sich der Weltmeister nicht seriös zum Sachverhalt geäußert. Sein abruptes Verlassen des Turniers ist eine rüde Geste gegenüber seinem Opponenten, den anderen Kollegen, den Organisatoren und den Kiebitzen. Darf Carlsen wie ein Orakel raunen, ohne Belege für seine Unterstellung liefern zu müssen? Natürlich weiß er, dass der Vorwurf des digitalen Betrugs der schlimmste ist, den man einem Schachspieler machen kann – auch unbewiesen kann er dessen Reputation, mithin sein Kapital, ruinieren.
Hans Moke Niemann hat am Brett eine imposante Entwicklung hinter sich, binnen knapp zwei Jahren hat er sich um 191 Punkte verbessert. Das allseits geschätzte Magazin New in Chess (das pikanterweise zum börsennotierten Unternehmen des Weltmeisters gehört) hat Niemann in seiner Ausgabe 4/2022 portraitiert. Dass der Amerikaner im Alter von 12 und dann noch einmal 16 Jahren auf der Schachplattform chess.com (die sich nun anschickt, des Weltmeisters Firmengruppe zu übernehmen) wegen digitalen Betrugs gesperrt wurde, erwähnt der Artikel im Leitmedium der Branche nicht. Niemann hat diese Patzer eingestanden und sie als die größten Fehler seines Lebens bezeichnet. Am Brett habe er niemals betrogen, beteuerte er in einem Verhör anlässlich der 5. Runde in St. Louis. Seine beeindruckende Eloentwicklung sei die Frucht eines harten Trainings, für das er sein soziales Leben komplett zurückstelle. Im Jahr 2021 spielte er 230 gewertete Partien, definitiv ein Rekord.
Niemanns Dilemma ist die Unbeweisbarkeit eines sauberen Spieles. Zum Skandal wird der Sachverhalt durch eine perverse Beweislastumkehr: Magnus Carlsen darf insinuieren, was immer er will, niemand verlangt von ihm Begründungen oder gar Dokumente im Sinne eines Hic Rhodus, hic salta; Hans Moke Niemann findet sich auf der Anklagebank wieder und muss sich gegen kafkaeske Vorwürfe wehren, ohne dass es konkrete Bezüge gäbe. Selbst wenn er, wie ein besonders abstoßender Beitrag auf Social Media lautet, während der Partie gegen Carlsen elektronisch ansteuerbare kleine Kugeln im Anus mitgeführt hätte, müsste es jemanden gegeben haben, der diese Kugeln mit Impulsen versorgte, Niemann quasi zumorste, was er in der jeweiligen Stellung zu ziehen habe. Diesen externen Helfer hat man ebensowenig gefunden wie elektronische Empfänger an – oder in – Niemanns Körper.
Auch die größten Meister des Schachspieles konnten sich mitunter Erfolge des Gegners nur über den Einsatz unlauterer Mittel erklären. So warf Bobby Fischer nach dem Kandidatenturnier auf Curacao 1962 den sowjetischen Teilnehmern vor, untereinander Remisen geschoben zu haben, um sich die Kräfte für ihn zu sparen. Als Garri Kasparow 1986 beim WM-Kampf in Leningrad gegen Anatoli Karpow drei Partien en suite verlor, beschuldigte er einen seiner Sekundanten, dem Gegner die Analysen des Teams verraten zu haben und warf ihn raus. Schließlich behauptete Veselin Topalov 2006 beim WM-Match in Elista, der Champion Vladimir Kramnik habe auf der Toilette einen Rechner versteckt, den er regelmäßig konsultiere, um die aktuelle Stellung zu prüfen. Keine dieser Behauptungen ist je gerichtsfest belegt worden, weder durch Geständnisse noch durch Zeugenaussagen noch durch sonstige Quellen. Es bleibt eine Paranoia der Schlussfolgerungen.
Als Weltmeister hat Carlsen eine Verantwortung gegenüber dem Schach, die weit über seine Befindlichkeiten hinausgeht. Zuerst erklärte er im Verlauf des Kandidatenturniers 2022 in Madrid wegwerfend, er habe keine Lust mehr, sich auf ein weiteres WM-Match vorzubereiten. Und nun bricht er divenhaft einfach ein Turnier ab, ohne jede Begründung, und wirft der Meute an den Monitoren einen Knochen hin, auf dass diese das richtige Geheul anstimme. Sollte Carlsen den Verdacht eines elektronischen Betrügens gehabt haben, wäre es einzig richtig gewesen, diesen offiziell dem Veranstalter zu melden. Doch ist der Weltmeister scheint’s der Ansicht, dass die elementaren Regeln des Wettkampfschachs für ihn nicht gelten; vor einem Cäsarenwahn ist auch er nicht gefeit. Mit seinem Tweet hat er für die Verdammung eines Kollegen gesorgt, ohne dass es je ein Verfahren gegeben hätte. Er sollte vorerst zu keinem Turnier mehr eingeladen werden.