Laßt, die Ihr eingeht, jede Hoffnung fahren.
Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, Hölle, Dritter Gesang
Alle stehen ständig unter Strom und sind stets auf dem Sprung. Sie diskutieren im Gehen, telefonieren im Laufschritt, simsen beim Bestellen im Bistro, geben Befehle beim Bezahlen, scrollen hastig essend durch ihre Mails, schieben ihre Trolleys vor sich her, lassen andere die Protokolle lesen, sprinten aus der gerade verlassenen Sitzung zum nächsten Termin. Über dem Gewusel lastet ein schweres Stimmensummen wie im Terminal eines Flughafens, dazu passen die Laufbänder und die Monitore sowie die Hinweisschilder an den Kreuzungen und die Wagenflotte am Entrée. Die Energie im Raum bemächtigt sich des Körpers, der sie unweigerlich mit Bewegung kompensiert. Wer hier in einem Sessel sitzt und lediglich Zeitung liest, kann nicht wichtig sein.
Das Ensemble ist eine Stadt in der Stadt, geschätzte 8.000 Menschen arbeiten hier. Unter ihrem Dach gibt es Geldautomaten, Briefkästen und Restaurants, eine Kita, eine Sanitätsstation und eine Merchandising-Ecke. Zutritt zu den Gebäuden erhält man nur durch elektronisch gesteuerte Türen, die sich nach dem Scannen der Hausausweise öffnen. Beim Passieren der Schleusen lächelt Kerstin den Sicherheitsdarstellern in ihren schusssicheren Glaskabinen an der Pforte zu. Dank ihres Status einer Beschäftigten kann sie sich frei im Haus bewegen und muss sich nicht wie beim Check-in auf Waffen oder Sprengstoff testen lassen. Ihre polizeiliche Überprüfung vor der Aufnahme ihrer Tätigkeit verlief unauffällig, überdies wird jeder Schritt von einer Kamera erfasst.
Jedes Gebäude hat separate Eingänge, ist aber im Untergeschoss mit den anderen auf dem gerade 1 km² messenden Areal am Rande des Tiergarten verbunden. Nach dem Beschluss des Bundestages 1991, den Sitz von Regierung und Parlament dauerhaft vom Rhein an die Spree zu verlegen, entstand der steinerne Apparat des Staates auf einer mauerbedingten städtebaulichen Brache im Schatten des Brandenburger Tores. So konnten, nach der neckischen Verhüllung des Reichstags durch Christo und Jeanne-Claude 1995, die beteiligten Architekten ihre oberirdische Vision eines transparenten Politikbetriebes ungehindert mit einer unterirdischen Infrastruktur realisieren, auch das historische Reichstagsgebäude mit dem Plenarsaal und der gläsernen Kuppel ist an die Zirkulation der Versorgung angeschlossen.
Die klinische Material- und Formensprache des ausgehenden 20. Jahrhunderts zeigt sich außen wie innen, es dominieren hellgrauer glatter Sichtbeton, polierter Granit, schlanke Stahlstreben und wandhohe Verglasungen. Mattgelbe Parkettböden, Neonröhren, anthrazitfarbene Läufer und beige Lamellen zur Straße generieren eine Ästhetik des Abstands. Zwei Bürokuben, zwischen denen die Spree mit einem markanten Schwung verläuft, liegen auf der selben Achse wie das nahe, im gleichen Stil gebaute Kanzleramt; in gut 20 Metern Höhe spannt sich malerisch eine Fußgängerbrücke zwischen ihnen über den Fluss. In Rufweite liegt die massige Voliere des Hauptbahnhofs, von der anderen Seite grüßen Philharmonie und Sony-Center. Uniformierte Polizei ist kaum zu sehen, das Volk ist förmlich eingeladen, seine Vertreter bei der Demokratie zu beobachten.
Kerstin hat das subtile Spiel der Hierarchien und Codes des politischen Systems nach anfänglich ungläubigem Staunen längst verinnerlicht. Die wenigen Königinnen im Stock sind die Mitglieder der Regierung, die dann und wann zu Debatten ins Plenum kommen. Sie sind über die Wolken von Personenschützern auszumachen, ihre schwarzen Limousinen parken ungeniert im Halteverbot. Die gut 700 Abgeordneten aller Fraktionen sind die Drohnen des Betriebes, die in den Ausschüssen die Kärrnerarbeit leisten und einen Schweif an Akten schleppenden Referenten, Sekretären, wissenschaftlichen Mitarbeitern und Praktikanten (m/w/d) hinter sich her ziehen. Sie alle produzieren den Honig, den die akkreditierte Presse als Imker ihrer Leserschaft verkauft.
Die hohen Hallen mit ihren Bürowaben und den kreisrunden Sitzungssälen laden die Atmosphäre latent sakral auf und dämpfen die Gespräche im Atrium. Das Auge schaut automatisch nach oben, es folgt den gläsernen Fahrstühlen und den dekorativ angelegten Treppen und bleibt an abstrakten Gemälden sowie hölzernen Skulpturen hängen. Es mischen sich en passant die Besuchergruppen salopp gekleideter Teenager mit Trauben semiprominenter Gesichter; die zahl- wie namenlosen Arbeiterinnen des Bienenkorbes verströmen mit ihrer gedeckten Business-Garderobe und den frisch frisierten Häuptern eine Stimmung kühler Effizienz über die Parteigrenzen hinweg. Sie alle wähnen sich im Vorhof der Bedeutsamkeit, die anzieht, auslaugt und erregt. Wie das Abzeichen eines elitären Ordens tragen sie ihr Visum am Revers.
Die unmenschliche Hitze des Sommers bleibt dank der reflektierenden Verschalung und der Klimaanlage vor den Toren, so wie auch die sozialen Probleme der Republik die Blase des Bundestages nicht erreichen. Das Parlament ist ein Paradebeispiel der Selbstreferenz nach Niklas Luhmann: Es kommuniziert mit sich selbst entlang der Differenz von Macht und Ohnmacht und nimmt die Menschen, die seine Existenz durch Wahlen erst legitimieren, lediglich als Umwelt wahr. Wie Atome auf unsichtbaren Umlaufbahnen ziehen die Arbeiterinnen aneinander vorbei, sich instinktiv dabei taxierend, wer für wert befunden wird, ins eigene Netzwerk aufgenommen zu werden. Kerstin sieht keine Mienen, sondern Masken, anstelle von Personen nimmt sie Rollen im Gerangel um Einfluss wahr.
Nach einem späten Feierabend fährt sie den Rechner runter, reibt sich die müden Augen und trägt ihr Brompton zum Ausgang. Die Glut des Abends schlägt ihr vor den Kopf, der Strom der Touristen mit ihren Starbucks-Bechern zieht über das Trottoir. Auf den ersten Metern im Sattel merkt sie die schmerzenden Verspannungen des Tages in jedem Muskel, ihr Hirn juckt fiebrig. Die schimmernde Fensterfront des Parlamentes im Blick, hat sich vor der Rotunde der Bibliothek im Lüders-Haus ein Kamerateam aufgebaut, um vor der gewichtigen Kulisse des Reichstags einen Beitrag für die Nachrichten zur besten Sendezeit zu produzieren. Kerstin ist froh, dass sie sich diese Show nicht ansehen muss, sie braucht all ihre Kraft, um morgen wieder als Rädchen im Getriebe mitzudrehen.