Blanche

Manche Menschen leben durch Zahlen, andere durch Klänge, wieder andere durch Farben, jene schließlich durch Bewegungen. Bei der Schauspielerin, Autorin und Regisseurin Blanche Kommerell besteht kein Zweifel, dass sie eine Frau des Wortes ist, des gesprochenen, des geschriebenen, des dargestellten. Sie stand als Kind in DEFA-Filmen vor der Kamera („Rotkäppchen“, 1962) und erlangte mit dem Film „Jakob der Lügner“ von 1974 landesweite Berühmtheit. Nach der Wende 1989/91 wechselte sie das Genre und wurde mit ihren literarischen Portraits eine weithin anerkannte Rezitatorin, deren Arbeit 2008 mit dem Deutschen Sprachpreis gewürdigt wurde.

Blanche Kommerell wurde 1950 in Halle an der Saale geboren und wuchs in Lichtenberg auf, ihre Mutter war die Schauspielerin Ruth Kommerell (verstorben 1986). Nach Bühnen- und Filmerfahrungen bereits in der Jugend (ohne Mitglied der Pioniere oder der FDJ zu sein) studierte sie Germanistik und Musikwissenschaft an der Humboldt-Universität, danach schloss sich eine Schauspielausbildung am Berliner Ensemble an. Es folgten Engagements in Magdeburg, Potsdam, Leipzig und Berlin, sie drehte unten anderen mit Jaecki Schwarz, Katharina Thalbach, Erwin Geschonneck und Henry Hübchen. Nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann 1976 und der sich anschließenden Ausreise von Thomas Brasch und Katharina Thalbach wurde sie auf der Bühne und im Film kaum noch gebucht; sie galt als Sympathisantin des staatskritischen Milieus der Kulturszene, blieb aber selbst in der DDR.

Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits Mutter zweier kleiner Söhne, von denen der ältere sich 1988 das Leben nehmen sollte. Blanche erarbeitete sich literarische Lesungen und Monologe und konnte der Familie mit Ach und Krach das Überleben sichern. Mit ihren scheinbar unpolitischen Portraits vornehmlich aus der Weimarer Klassik und der Romantik (Annette von Droste-Hülshoff, Heinrich von Kleist, Friedrich Hölderlin, Bettine von Arnim, Rahel Varnhagen) gelang ihr in der DDR der 1980er Jahre das Überwintern, ohne staatliche Aufträge zu erhalten; sie fand zudem Anschluss an ein Künstlerdorf in Ahrenshoop. Nachdem 1984 das alte Schauspielhaus am Gendarmenmarkt als Konzerthaus wiedereröffnet wurde, konnte sie ob ihres gewachsenen Renommees dort auch Lesungen abhalten, dabei stets aufmerksam von der Staatssicherheit beobachtet, die die Kulturschaffenden per se der Subversion verdächtigte. Ab 1985 durfte sie gar Gastspiele in der Bundesrepublik geben, ihre Kinder wurden dabei als Geiseln des Regimes zurückgehalten.

Im März 2010 tritt Blanche Kommerell in der Belle Etage am Lietzensee auf. Der verspiegelte Prunksaal dieser 510 m² großen Wohnung ist mit etwa 80 Gästen gut gefüllt, Blanche sitzt allein an einem Tisch, darauf eine Leselampe, eine Vase mit einer Rose, eine Karaffe mit Wasser und ein Glas, zudem mehrere Bücher mit Lesezeichen sowie ein Halter mit zwei Fotografien. Ein Mikrofon ist nicht nötig, ihre geschulte Stimme erreicht mühelos auch die letzten Reihen, ihrem Melodie, Tempo und Lautstärke variierenden Organ hört das Publikum nur zu gerne zu. Sie widmet sich an diesem Abend der Schweizer Autorin Annemarie Schwarzenbach (1908 bis 1942), die mit den Geschwistern Erika und Klaus Mann durch die Berliner Spelunken der Weimarer Republik zog, in den 1930er Jahren mit dem Auto bis nach Persien und Afghanistan fuhr und Romane, Essays und Reisebeschreibungen verfasste. Blanche geht es darum, diese fast vergessene Schriftstellerin, die mit ihrem engelhaften androgynen Habitus Männer wie Frauen betörte, wieder zum Lesen zu bringen.

Blanche Kommerell ist eine kleine zierliche Frau mit großen braunen Augen unter noch immer tadellos geschwungenen Brauen, die Wangen von einem Netz aus Runzeln überzogen. Ihre langen Haare sind von silbrigem Glanz, der gut passt zum hellroten Barett, ihrem Markenzeichen. Sie wechselt beim Vortrag zwischen paraphrasierten Schilderungen der abenteuerlichen Lebensumstände Annemarie Schwarzenbachs (Mutter Faschistin, zeitweilig morphinsüchtig, permanent Affairen, Tod durch einen Fahrradunfall) und rezitierten Passagen aus ihren Werken. Blanches Stimme wechselt dabei vom erzählerischen Tonfall hin zur Deklamation; interessanterweise steht sie nicht, obwohl dabei der Atem leichter fließt und die Stimme besser stützt. Neben ihr sitzt ihr Sohn Sebastian, der als Musiker und Maler arbeitet, am Klavier; kommt eine Einheit ihres Vortrages zu ihrem Ende, spielt er ein Stück klassischer Musik oder auch Jazz als Antwort auf das soeben Gehörte.

Diese Art der literarischen Collage hat sich Blanche Kommerell in den 1990er Jahren erarbeitet und mit der Zeit vervollkommnet. Ihr episches wie lyrisches Repertoire reicht bis in die Gegenwart und umfasst so unterschiedliche Autorinnen und Autoren wie Theodor Fontane, Gertrud Kolmar, Gottfried Benn, Anna Achmatowa, Rainer Maria Rilke, Thomas Mann, Paul Celan, Ingeborg Bachmann, Hannah Arendt und Christa Wolf. Besonders die letztgenannte liegt ihr als Landsfrau sehr am Herzen, jedes Jahr zu ihrem Todestag im Dezember erinnert sie an die wohl wichtigste Schriftstellerin der DDR, die ihre Systemkritik auf ästhetische Weise artikulierte. Integraler Bestandteil ihrer Lesungen ist die Begleitung durch Musik; neben ihrem Sohn Sebastian stehen ein Violinist, ein Flötist und auch ein Akkordeonist gemeinsam mit ihr auf der Bühne und lassen Vers und Note sich finden.

Blanche Kommerell lebt in einem verwunschen aussehenden Haus mit großem Garten in Mahlsdorf am Ostrand Berlins, ist dort aber über das Jahr nicht häufig anzutreffen. Ihre Lesungen finden nicht nur an einschlägigen Orten im Reichshauptslum statt, als Freiberuflerin und Theaterkind ist Blanche ständig auf Tournee und liest in Bonn, Hamburg, Görlitz, Leipzig, Ahrenshoop und Sils Maria. In den 1990er Jahren arbeitete sie als Sprecherzieherin an der Hochschule der Künste, zudem hat sie seit 1990 bis heute einen Lehrauftrag für Sprache und Schauspiel an der privaten Universität Witten/Herdecke, wo sie mit den Studenten Theateraufführungen erarbeitet und dabei Regie führt. Nach dem Tod ihres zweiten Mannes im Januar 2020 bleiben ihr als Ruhepol daheim neben ihrer Katze nur die Bücher, von Brigitte Reimann über Mascha Kaleko bis Christine Lavant. In deren Gesellschaft aber fühlt sie sich seit jeher wohl.

Der Ort der Lesung über Annemarie Schwarzenbach in Charlottenburg könnte kaum passender gewählt sein. Schwarzenbach, die einer immens reichen Zürcher Industriellenfamilie entstammte, hätte sich am Lietzensee wie zuhause gefühlt. Die riesige Wohnung aus dem Jahr 1908 mit gut 4,4 m Deckenhöhe, Holzvertäfelung der repräsentativen Räume, Stofftapeten, opulentem Stuck, Flügeltüren und Fischgrätparkett hat eine illustre Schar an Nutzern aufzuweisen: Ende der 1920er Jahre wohnte hier ein Rechtsanwalt, der unter anderem Kurt Tucholsky verteidigte; ab den späten 1930er Jahren residierte hier der SS-Standartenführer Hermann Fegelein; in den 1950er Jahren hatte der Vorstand der Westberliner FDP hier seine Geschäftsstelle; in den 1960er Jahren erfolgte der Umbau zu einem Pflegeheim; in den 1980er Jahren wurden die Räume als Architekturbüro genutzt; Ende der 2010er Jahre erfolgte schließlich die Wiedereröffnung als Pension und Veranstaltungsort für Lesungen, Feste, Konzerte und Filmdrehs.

Ähnlich wie Blanche, war auch Annemarie widerborstig, neugierig und dauernd unterwegs, lebte beständig auf Reisen. Während Blanche aus ihren Reportagen aus dem Kongo, der Türkei und den USA vorliest, hat die Zuhörerin die Ahnung, dass die Vorgestellte gleich aus den Kulissen auf die Bühne treten könnte. Blanche schafft es mit ihrem warmen Alt, dem Publikum die Autorin zu vergegenwärtigen und Lust am Lesen der wieder aufgelegten Bücher zu machen. Blanche wendet sich schon lange auch den Vergessenen und Übersehenen der Literatur zu. Im September 1989 führte sie mit dem berühmten Dramatiker Heiner Müller ein Interview über dessen zweite Frau Inge (1925 bis 1966), die mit ihren Gedichten völlig im Schatten ihres Gatten stand. Möge Blanche Kommerell noch lange an ihrer literarischen Archäologie arbeiten können. Und mögen endlich wieder richtige Kulturveranstaltungen ohne Hindernisse möglich sein: Ihre geplanten Lesungen der Jahre 2020 und 2021 sind der halsbrecherischen Corona-Politik der Bundesregierung zum Opfer gefallen. Fatal für eine Künstlerin, die vom Wort lebt, auch und gerade auf der Flucht. Das Schreiben eigener Gedichte kann dabei in der erzwungenen Untätigkeit eine Überlebenshilfe sein.