Bodentruppen

Vor fast auf den Tag genau zwei Jahren marschierten russische Truppen in die Ukraine ein. Offizielles Ziel dieser „militärischen Spezialoperation“ war die „Entnazifizierung“ des 1991 selbstständig gewordenen Landes, wie die Russische Föderation hervorgegangen aus der Konkursmasse des sowjetischen Sozialismus. Wider alle Erwartungen musste Kiew nicht schon nach einer Woche kapitulieren, der Kampf um das Land, die Freiheit und die Unabhängigkeit geht jetzt ins dritte Jahr. Dass die Ukraine überhaupt so lange durchhalten konnte, liegt in erster Linie an den Finanzhilfen und Waffenlieferungen europäischer Staaten und vor allem der USA. Auf einer Konferenz in Paris sprach der französische Staatspräsident unlängst die Drohung Richtung Russland aus, „westliche“ Bodentruppen in die Ukraine zu entsenden.

Diesen absurden Vorschlag des Populisten im Elysée fand lediglich sein ukrainischer Kollege gut, alle westlichen Staats- und Regierungschefs wandten sich unisono dagegen. Aus gutem Grund, müsste Russland doch die Anwesenheit ausländischer Truppen in der Ukraine, in welcher Mission auch immer, als Aufforderung verstehen, sein komplettes Waffenarsenal gegen Europa einzusetzen, auch das atomare, gegebenenfalls um den Preis des eigenen Untergangs. Der Wiedergänger Bonapartes wiederholte die ad nauseam verwendete Formel, „man werde alles Notwendige tun“, damit Russland diesen Krieg verliere und die Ukraine in gewinne. Nach Auffassung des Illusionisten aus Amiens gehören dazu eben auch alliierte Bodentruppen – nach und neben den Panzern, Haubitzen, Drohnen, Generatoren und zig Millionen Schuss Munition, die seit zwei Jahren permanent an den Dnjepr geliefert werden. Von diplomatischen Bemühungen zu Verhandlungen über einen Frieden, notfalls auch unter Abtretung an der Küste gelegener Gebiete, sprach er nicht.

Ausgerechnet die Atommacht Frankreich mit ihrer kolonialen Vergangenheit, die bisher lauthals Hilfen angekündigt, aber kaum geleistet hat, lehnt sich gegen jeden Konsens aus dem Fenster mit ihrer halsbrecherischen Volte. Das kleine Estland, das über eine Grenze zu Russland und eine starke russischsprachige Minderheit verfügt, hat, bezogen auf das jeweilige Bruttoinlandsprodukt, etwa dreißigmal so viel an Rüstungsgütern an die Ukraine geliefert wie Frankreich. Vermutlich gehen dem französischen Präsidenten im wöchentlichen Schaulaufen der großen Strategen die Pferde durch; er, der sich weiß Gott mit einer Aura der Eitelkeit umgibt, will sich besonders hervortun im internationalen Konzert der Politik, auch wenn es nur lärmend und knallig ist. Er sollte lieber nachsehen, wozu die internationalen militärischen Einsätze im Irak, in Afghanistan und in Mali, jeweils mit einem UN-Mandat abgesichert, geführt haben. Zu einer stabilen Befriedung der Region jedenfalls nicht.

Seit Februar 2022 werden die führenden Repräsentanten der NATO und der EU nicht müde zu betonen, dass sie eine Kriegsbeteiligung vermeiden wollen. Zynisch gesagt, besteht diese Gefahr überhaupt nicht, weil nach der Diktion des russischen Präsidenten gar kein „Krieg“ in der Ukraine erklärt wurde, sondern dort nur eine „militärische Spezialoperation“ stattfindet. Wer in Russland von diesem Vokabular abweicht, spielt mit dem Leben. Allerdings sind Länder wie Deutschland, Großbritannien, die Niederlande, Polen und erst recht die USA de facto längst Kriegspartei: Sie beherbergen mehrere Millionen ukrainischer Flüchtlinge und versorgen sie mit medizinischer Behandlung, Geld, Sprachkursen und Arbeitserlaubnissen; sie beteiligen sich an den – bisher weitgehend wirkungslosen – Sanktionen gegen Russland, die im Falle Deutschlands zu einer überhasteten und teuren Umstellung von Gas und Öl auf andere Energieträger geführt haben; sie schicken kontinuierlich diverses Kriegsgerät, manches auf Kredit, vieles als Geschenk; sie isolieren Russland diplomatisch auf internationaler Bühne und schmieden eifrig Pläne für einen Wiederaufbau des geschundenen Landes.

Bis heute verfängt das Motiv des ukrainischen Präsidenten, die eigene Armee kämpfe stellvertretend gegen Russland für die Freiheit, die Sicherheit und die Zukunft ganz Europas. An dieser selbstgefälligen Darstellung sind durchaus Zweifel angebracht. Die Ukraine kämpft um das eigene Überleben – für diesen Verteidigungskampf gegen den russischen Aggressor hat sie jedes Recht und verdient jedes Mitgefühl. Aber einen ganzen Kontinent in Mithaftung zu nehmen, hat schon Chuzpe und ist nur aus der Verzweiflung über eine bevorstehende territoriale Auslöschung des Landes zu verstehen. Man muss der imperialen Logik des Kremls, nach der eine eigene ukrainische Nation mit einem Recht auf einen eigenen Staat eine Fiktion sei und es sich bei den Ukrainern bloß um „kleine Russen“ handele, nicht folgen; genauso wenig muss man die Erzählung Kiews, es sei Teil der „westlichen Wertegemeinschaft“, wörtlich nehmen. Man denke nur an den Herbst 2022, als der damalige Botschafter des Landes in Deutschland sich darin gefiel, den Bundeskanzler vulgär zu beschimpfen und im selben Atemzug von ihm Geld und Waffen zu verlangen. Von Demut oder gar Dankbarkeit keine Spur.

Die Ukraine ist ausweislich mehrerer ökonomischer Indizes das Land mit der höchsten Korruption Europas, ohne die Milliarden aus den europäischen Hauptstädten zur Aufrechterhaltung seiner Lohn- und Rentenzahlungen wäre sie überdies längst bankrott. Zudem darf man die Frage stellen, warum die ehemalige Sowjetrepublik, anders etwa als die baltischen Staaten, auch 33 Jahre nach dem Ende der UdSSR noch immer nicht fit genug ist für den europäischen Wirtschaftsraum EU und das transatlantische Verteidigungsbündnis NATO. Offensichtlich befindet sich die Wirtschaft des Landes in der Hand einiger Oligarchen, wie ihre russischen Brüder bei der Privatisierung der riesigen Kombinate in den 1990er Jahren zu märchenhaftem Reichtum gekommen. Der Haushalt des Landes wird weitgehend gestützt durch Exporte landwirtschaftlicher Produkte, daran ändern auch gut ausgebildete IT-Fachkräfte nichts.

Man darf die Unterstützung der Ukraine durch NATO und EU als kostspielige Gefälligkeit verstehen; ob deren Führungsleute wirklich glauben, nach einem möglichen Ende der Ukraine als Staat stünden Länder wie Estland, Lettland und Polen auf der Liste des russischen Caesaren, muss offen bleiben. Eine Beistandspflicht besteht keineswegs: Die Ukraine ist nicht Mitglied der NATO, die einen Angriff auf eines ihrer Länder laut Vertrag als einen solchen auf die ganze Gemeinschaft wertet und entsprechend zu beantworten beabsichtigt. Diese potentielle Abschreckung ist vermutlich die beste Lebensversicherung gegen Hasardeure und Revisionisten, wie sie in Moskau das Sagen haben. Warum sich aber NATO und EU das ukrainische Fass ohne Boden freiwillig in die Küche geholt haben, ist bisher nicht überzeugend dargelegt worden. Die Weltbank beziffert die Kosten für den Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur vorsichtig mit rund 480 Milliarden Euro.

Vor diesem Hintergrund muten die Bodentruppenphantasien des Jupiters von der Seine wie ein schlechter Witz an – sie wären der Einstieg in eine neue Phase des Krieges mit völlig offenem Ausgang. Seit Wochen machen Aussagen ukrainischer Generäle die Runde, nach denen dem Land die Soldaten ausgehen. Auf Telegram kursieren Geschichten über besonders brutale Rekrutierungen der Armee, mit den Zahlen zu Gefallenen und Verwundeten geht die Führung sehr diskret um – kürzlich war die Rede von 31.000 toten Soldaten und 10.000 toten Zivilisten. Es zählte zu des ukrainischen Präsidenten ersten Dekreten im Februar 2022, dass Männer im wehrfähigen Alter von 18 bis 60 Jahren das Land nicht mehr verlassen dürfen, da sie als Reservisten gebraucht würden. Von diesen leben Zeitungsberichten zufolge etwa 650.000 in Westeuropa, davon rund 200.000 in Deutschland. Diesen Deserteuren fallen alle möglichen Gründe ein, warum gerade sie nicht im Donbass an der Front stehen können; die Bestechung von Ärzten, Offizieren, Grenzern und Beamten öffnet ihnen den Weg in die Cafés von Kopenhagen, Wien, Mailand und Prag. Bevor jetzt französische, britische, niederländische oder deutsche Soldaten für einen Krieg, der nicht der ihre ist, mobilisiert werden, sollten jene Fahnenflüchtigen das tun, was ihre Regierung von ihnen erwartet und wozu sie der halbe Kontinent ertüchtigt: Die Freiheit und die Existenz ihres Landes im Schützengraben verteidigen.