Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs.1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) schützt auch die geschlechtliche Identität derjenigen, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen. – Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 2019/16
Sascha trank für gewöhnlich keinen Alkohol. Deswegen wirkte der Prosecco, den es im schlanken Glas in der Hand hielt, unmittelbar über die Mundschleimhaut. Es spürte die perlende Wirkung sofort und fand das leicht schwebende Gefühl tendentiell angenehm. Sie trafen sich am späten Freitagnachmittag im Büro seiner ehemaligen Chefin, um vor dem Besuch im Restaurant gemeinsam mit den alten Kollegen schon etwas vorzuglühen. Gegen 18:00 Uhr saßen sie dann im Großraumtaxi, um ins nahe gelegene „Borchardt“ zu fahren, wo sie einen Tisch bestellt hatten. Sie ließen ihre Mäntel an der Garderobe und wurden von einem livrierten Kellner zu ihrem Tisch begleitet.
Sascha war das Einzige in der Runde, das sich vegetarisch ernährte. Während die anderen das panierte Schnitzel bestellten, eine Spezialität des Hauses mit österreichischer Küche, wählte Sascha das raffiniert zubereitete und gut gewürzte Gemüse. In routinierter Beiläufigkeit wurden die Speisen serviert, ein Kollege kostete den Wein und befand ihn für gut. Die heitere Stimmung war dem nahenden Jahresende angemessen, und in Sascha fing eine Angst an zu wachsen. Der Stress mit Leuten, die es von der Arbeit her kannte und in diesen geregelten Zusammenhängen mochte, in lockerer Runde in der Öffentlichkeit zu sitzen, wurde größer. Seine soziale Kontrolle hielt es davon ab, dem Fluchtimpuls zu folgen und die Bühne des Restaurants zu verlassen in Richtung schützender Dunkelheit.
Es kam, wie es kommen musste und wie Sascha es befürchtet hatte. Es wusste genau, warum es solche kontingenten Situationen wo immer möglich mied. Am wohlsten fühlte es sich in Gegenwart genau eines Menschen ohne weitere Störung, bereits zu viert wurde es ihm zu viel; es kostete es eine große Überwindung, die lieb gemeinte Einladung zum Weihnachtsessen mit durchaus vertrauten und angenehmen Kollegen anzunehmen. Das Setting im Lokal war leider bestens geeignet, ihm den Boden unter den Füßen wegzuziehen; hier nun inmitten der jungen, schönen, prominenten und reichen Mitte-Leute bekam es es mit der Angst zu tun. Dort am Tisch saß ein aktiver Fußballtorhüter in Begleitung, nebenan ein bekannter Investor samt Entourage, eine Reihe weiter eine allgegenwärtige TV-Moderatorin und dazwischen jede Menge Models mit dem uniformen Noli-me-tangere-Blick. Sascha sehnte sich nach seinen Büchern, wurde aber hier in der Konversation gezwungen, Auskunft über seine Jugend und sein nicht vorhandenes Privatleben zu geben.
Seine vormalige Chefin, eine bildschöne charmante Frau mit einem perfekt geschnittenen Gesicht, erzählte auf einmal freimütig über ihre Zeit der Anbahnung mit Männern. Sie war in ihrer Jugend viel unterwegs, in Clubs, auf Festivals und Raves, unter anderen Feierfreudigen und Entdeckungswilligen. Und sie sprach von einem fernen Abend, an dem sie einem Mann begegnete, der ganz ihrem Bild ihres Traumprinzen entsprach. Aufgeregt beschloss sie, es mit ihm zum Äußersten kommen zu lassen, als dieser ihr zu vorgerückter Stunde anbot, sie nach Hause zu fahren. Und dann beließ er es dabei, er setzte sie einfach artig bei ihren Eltern ab und wünschte ihr höflich eine gute Nacht. Nach allgemeinem Geschmunzel der Runde stellte sie dann Sascha die verhängnisvolle Frage, welche Erfahrungen es denn in der Jugend gesammelt hatte. Sascha schluckte und antworte mit maskuliner Stimme, dass es bereits damals geschlechtslos gelebt habe und dass es nichts dergleichen zu berichten gäbe.
In ihm stieg eine bekannte Welle der Scham hoch, die es völlig lähmte. Sascha hatte keine Jugend gehabt, keine Flirts, keine Experimente, keine Affären, keine Beziehungen, nichts. Als Junge, der es damals noch war, mied es instinktiv jede Gelegenheit, wo es zu Kontakten zu Frauen hätte kommen können, genau das wollte es ja nicht. Und Orte, an denen es Männern in liebevoller Absicht hätte begegnen können, kannte es nicht. So blieb Sascha mit den Büchern und Schachfiguren allein, die ihm bis heute treu ergeben waren. Gegen jede Wahrscheinlichkeit hatte es geglaubt, es könnte mit einem Transleben zur Frau werden und mit Anfang Zwanzig eine weibliche Pubertät nachholen. Lange Jahre dauerte es, bis es diese Illusion als solche erkannte, und weitere quälende Jahre, bis es sich als Kastrat und Ausschuss annahm. Es sehnte sich nach emotionaler Betäubung, Schlaf und Vergessen und verfluchte den Alkohol, der es in größeren Dosen enthemmte und weinerlich machte.
Zwischendurch musste es einmal zur Toilette, der Gang durch das Lokal geriet zum Kreuzweg. Nur hübsche, wohl geformte, makellose Frauen mit großen Augen, seidigen Haaren und heilen Zähnen an den Tischen, umsorgt von ihren nicht minder anziehenden Galanen in elegant geschnittenen Anzügen, nahm niemand von ihm Notiz auf dem Weg zu den Waschräumen. Gottlob hatte es die Toilette zum Pinkeln allein; es war ihm so peinlich, gemeinsam mit einer Frau vor dem Spiegel zu stehen und sich die Hände zu waschen. Es fand sich abstoßend hässlich, viel zu groß, grob, plump und breit, bar jeder weiblichen Proportionen, noch dazu viel zu alt für einen Ort des Glanzes wie diesen. Es gehörte ins Kloster, in die Bibliothek, auf den Friedhof, vielleicht noch ins Museum, aber nicht ins Licht. Als es wieder am Tisch saß, fingerte es in seiner Tasche herum und fand das Röhrchen mit den Benzodiazepinen, ohne deren gnädigen Schleier es die Gegenwart ausgelassener Menschen nicht mehr ertrug.
Das „Borchardt“ hatte sich rasch gefüllt, längst waren die eng gestellten Tische komplett besetzt, an der Bar wartete eine Traube Gäste auf einen frei werdenden Tisch. Die Gespräche über den Gerichten verbanden sich zu einem schmerzenden Lärm. Sascha fühlt sich durch alle Frauen im Raum widerlegt, die tragen konnten, was immer ihnen beliebte, vielleicht waren es Prostituierte, eventuell Geschäftsführerinnen, gegebenenfalls Studentinnen, unter Umständen einfach nur Erbinnen. Zum Glück konnte Sascha dem Publikum den Rücken zukehren, sodass es nicht zu einer visuellen Belästigung der anderen wurde. Mittlerweile rühmte ein Kollege die Macht des weiblichen Busens, der imstande wäre, das männliche Hirn abzulenken und einnehmend für die eigenen Anliegen zu stimmen. Es konnte damit sicher nicht gemeint sein, dazu waren seine Mückenstiche unter dem Textil kaum als solche auszumachen. Als dann noch ein Kollege davon sprach, dass er mit Bart und ersten grauen Haaren von Frauen vermehrt interessiert registriert werde, war Sascha vollends draußen. Sie sprachen eine Sprache, die es zwar erkannte, der es aber nicht mächtig war. In seinem Mund wurden deren Worte tot.
Was für eine lächerliche Debatte auf Twitter und YouTube, ob Transfrauen nun Frauen seien oder nicht. Die einen sagten vehement, dass Transfrauen selbstredend als Frauen gälten, es käme auf ihre geschlechtliche Identität an, die ihnen niemand absprechen könnte. Die anderen rüpelten laut, dass sogenannte Transfrauen Männer blieben, die niemals über die reproduktiven Fähigkeiten einer Frau verfügten und deshalb in Frauenräumen nichts verloren hätten. Für sich hatte Sascha das deprimierende Fazit gezogen, keine Frau geworden zu sein, wenn auch der Mann nach Hormonen und Operationen verschwunden war. Es blieb zurück als Neutrum, als Schemen, als Behinderter. Wie oft hatte es schon gehört, wie belesen, kultiviert, gebildet und kommunikativ es doch sei – doch niemand hatte ihm je das Kompliment gemacht, dass es doch reizvoll, attraktiv, weiblich oder sexy sei. Der eherne Status des Geschlechtslosen als Ergebnis einer unbestechlichen Statistik.
Selbst in Gesellschaft bekannter und wohlwollender Menschen kam Sascha sich vor wie ein Paria, der durch die elementaren Raster sozialer Ordnung fiel. Die Zweigeschlechtlichkeit hatte die Menschen fest im Griff, allem feuilletonistischen Bekenntnis zur Diversität zum Trotz. Leute, die nicht eindeutig als Mann oder Frau durchgingen, taugten bestenfalls zum Partygag, aber nicht zum seriösen Arbeiten oder gar zur Liebe. Und wer wie Sascha zwischen diesen beiden Geschlechtern am Boden lag, wurde im besten Falle ignoriert, mit Sicherheit bestraft mit Liebesentzug für die Anmaßung, an der göttlichen respektive biologischen Vorsehung gerüttelt zu haben. So war das Aufheben der Tafel für Sascha eine Erlösung, es atmete auf dem Trottoir auf und genoss die kalte Winterluft. Die anderen wollten noch weiter in eine Bar und schienen sich seiner weiter annehmen zu wollen; mit dem Hinweis, dass seine Grenzen unter Alkohol sich auflösten, verabschiedete sich Sascha und begrüßte seine verfluchte Einsamkeit.
Wenn es noch eines Beleges bedurft hätte, dass es nicht als Frau gesehen wurde, bekam es diesen am kommenden Tag geliefert. Sascha war mit dem Fahrrad unterwegs, als ihm in voller Fahrt die Kette absprang. Es stellte das Rad kopfüber auf Lenker und Sattel und fummelte mit den behandschuhten Fingern an der Kurbel herum, ohne dass es ihm gelang, die Kette wieder auf das Zahnrad zu setzen. Von den zahlreichen Passanten hielt niemand an, um ihm seine Hilfe anzubieten. Bei einer Frau hätten die Kavaliere sicher kaum gezögert.