Boris

Spasski ist ein kompletter und absolut universeller Spieler. Er konnte gleichermaßen gut angreifen, verteidigen und positionelle Vorteile anhäufen. Er war es, der die Mode der Universalität schuf, die bis auf den heutigen Tag lebendig ist. – Anatoli Karpow

Wie schafft man es, als Weltmeister seiner Disziplin immer nur als Komparse genannt zu werden? Indem man gegen einen Herausforderer verliert, der ein bis dato unbekanntes Niveau erreicht und dergestalt die Grenzen der Profession verschiebt. Genau das geschah im Sommer 1972, als sich Boris Spasski und Bobby Fischer in Reykjavik um den Titel des Schachweltmeisters duellierten. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges entriss der Amerikaner Fischer dem Russen Spasski die WM-Krone und unterbrach die sowjetische Dominanz im Schach. Die Behörden der UdSSR empfanden diese Niederlage ihres Spielers als Affront und strichen ihm die staatliche Unterstützung. Spasski hingegen zeigte sich erleichtert, nicht länger die Bürde des Weltmeisters schultern zu müssen.

Boris Spasski wurde am 30. Januar 1937 im seinerzeitigen Leningrad geboren. Rechtzeitig vor der mörderischen Blockade der Stadt an der Newa durch die Wehrmacht 1941 wurde er in die Region Kirov evakuiert; das Schachspiel erlernte er mit fünf Jahren, ernsthaft widmete er sich dem Spiel nach der Rückkehr in seine Geburtsstadt 1946. Er profitierte davon, dass die sowjetischen Behörden das Schach sowohl in der Breite als auch der Spitze systematisch förderten und den Anspruch erhoben, die UdSSR zur globalen Führungsmacht im Schach zu machen. Im Pionierpalast Leningrads traf er auf den Trainer Vladimir Zak, der den Jungen zu einem vielversprechenden Spieler formte, der eine Vorliebe für ein bewegliches Zentrum, den Königsangriff und rechenintensive taktische Stellungen zeigte. 1953 besiegte er bei einem Turnier in Bukarest den nachmaligen Weltmeister Vassily Smyslov, 1955 verlieh ihm der Weltschachbund FIDE den Titel eines Großmeisters – als damals jüngstem Spieler überhaupt.

Anders als bei seinem Generationenkollegen Mikhail Tal verlief Spasskis weiterer Weg nicht so kometenhaft. Sein unzweifelhaftes Talent für das Spiel traf auf eine gewisse Lethargie hinsichtlich des Trainingsfleißes. Zwar teilte er 1958 den 1. Platz der Meisterschaft der UdSSR (die er 1961 und 1973 erneut gewinnen sollte), bei mehreren Kandidatenturnieren zur Qualifikation für ein WM-Match lieferte er aber nur durchwachsene Leistungen ab. Erst als Anfang der 1960er Jahre Igor Bondarewski sein Trainer wurde, entwickelte sich sein Schach in Richtung absolute Spitze. Er gewann 1966 in Santa Monica den Piatigorski-Cup, damals eines der wenigen privat organisierten und gut dotierten Turniere mit internationaler Besetzung. Im selben Jahr unterlag er dem amtierenden Titelträger Tigran Petrosian, der in den Eröffnungen schlicht besser präpariert war.

Spasski bewies Ausdauer, durchlief den mühsamen Qualifikationszyklus um die WM ein weiteres Mal und forderte Petrosian 1969 in Moskau erneut. Diesmal behielt er souverän die Oberhand und erntete die Früchte jahrelanger Arbeit. Als er dann nach drei Jahren gegen Fischer den sogenannten Wettkampf des Jahrhunderts verlor, wurde er wegen angeblich schlechter Vorbereitung und unzureichender Leistung vom Sportkomitee gemaßregelt. Spasski zog mit seiner dritten Ehefrau nach Frankreich und spielte regelmäßig in der deutschen Bundesliga; seine Versuche, sich ein weiteres Mal für ein Titelmatch zu qualifizieren, scheiterten. 1992 erklärte er sich mitten im Jugoslawienkrieg zu einem Gespenstermatch gegen Bobby Fischer in Belgrad bereit, wohl aus Hilfsbereitschaft seinem so geschätzten wie schwer verwirrten Gegnerpartner von Reykjavik gegenüber. Danach saß er nur noch sporadisch am Brett, spielte gelegentlich simultan, kommentierte hier und da. Vor allem litt er unter den Folgen mehrerer Schlaganfälle, Anfang der 2010er Jahre zog er zurück nach Russland.

1970 kam es in Belgrad zum sogenannten Match UdSSR gegen den Rest der Welt. Zehn Großmeister der seinerzeit unbestritten dominanten Schachnation spielten gegen zehn Kollegen außerhalb des Sojus. Boris Spasski war als Weltmeister für das 1. Brett gesetzt, an dem er auf den Dänen Bent Larsen traf, der diese Position selbstbewusst für sich reklamiert hatte und damit den Amerikaner Bobby Fischer ans 2. Brett verwies. Im zweiten Umgang dieser reizvollen Veranstaltung spielten Larsen und Spasski eine Miniatur, bei der dem Weißspieler Hören und Sehen verging. Larsen eröffnete unorthodox mit 1.b3, Spasski antwortete mit 1.e5 und weiteren, naheliegenden Entwicklungszügen, während Larsen sich mit obskuren, antipositionellen Zügen verzettelte. Unter mehreren sehenswerten Figurenopfern drang Spasski leichter Hand in die weiße Stellung ein und erlegte den unrochierten König mitten auf dem Brett nach nur 17 Zügen. Eine köstliche Partie, die Erstaunen und Schadenfreude gleichermaßen aktivierte, bis heute ein Vergnügen beim Nachspielen.

Zum Spektakel in Reykjavik ist anzumerken, dass das Match, das wegen Fischers peinlichen Eskapaden mehrfach vor dem Abbruch stand, nur dank Spasskis Konzilianz überhaupt halbwegs geordnet durchgeführt werden konnte. Fischer kam erst mit tagelanger Verspätung auf Island an, fehlte bei der Eröffnung, wollte keine Kameras im Spielsaal, düpierte die Organisatoren, war mit der Beleuchtung und dem Spieltisch unzufrieden und forderte überdies mehr Geld. Langmütig nahm Spasski dieses kindische Gebaren seines Herausforderers hin, weil er sich schachlich mit ihm messen wollte. Offen widersetzte er sich den Anweisungen der sowjetischen Funktionäre, den Wettkampf einfach abzubrechen; angesichts Fischers grob unsportlichen Verhaltens hätte er jedes Recht dazu gehabt. Zum Glück für die Schachwelt kam es anders.

Die 1. Partie warf der Amerikaner durch einen Anfängerfehler im Endspiel weg, die 2. Partie verlor er durch Nichterscheinen. Spasski wahrte die Contenance und stimmte Fischers Diktat, die 3. Partie in einem kleinen Nebenraum ohne Publikum und Kameras zu spielen, zu. Als Lohn wurde er zum ersten Mal überhaupt von Fischer geschlagen. Als Fischer die 6. Partie überraschend mit 1.c4 eröffnete und in grandiosem Stil gewann, fing das Publikum spontan an, dem Amerikaner zu applaudieren – Spasski fiel nach dem Händedruck als Zeichen der Aufgabe in den Beifall ein, welch generöse Geste gegenüber seinem Widerpart. Weitere Höhepunkte der Auseinandersetzung waren die 10. und die 13. Partie, die Fischer zwar gewann, die aber ohne Spasskis couragiertes Zutun keine zeitlosen Kunstwerke geworden wären. Am Ende siegte der Amerikaner mit 12,5 zu 8,5 Punkten und wurde der 11. Schachweltmeister.

Während Fischer danach in der Versenkung verschwand und seinem Antisemitismus – als Jude! – hemmungslos freien Lauf lief, kultivierte Spasski den Habitus eines Bohemian und Bonvivant. Er, der mit seinem blendenden Aussehen und seinen monarchischen Ansichten so gar nicht ins graue Kollektiv der Sowjetunion passte, wurde gar Teil der Popkultur: Im James Bond-Film „Liebesgrüße aus Moskau“ wurde eine seiner berühmten Partien dargestellt. Spasski spielte halbseidene Eröffnungen wie das romantische Königsgambit und war zugleich der führende Experte der Breyer-Verteidigung der Spanischen Partie. Auf seine unterstellte Endspielschwäche angesprochen, antwortete er lakonisch, das sei nicht weiter schlimm, da er seine Partien im Mittelspiel zu gewinnen pflege. Am 27. Februar 2025 ist Boris Wassiljewitsch Spasski nach langer schwerer Krankheit gestorben, das Schach verliert einen Solitär.