Boveri

Im Herbst 1943 begannen britische und US-amerikanische Streitkräfte mit großflächigen Bombardements der deutschen Hauptstadt. Bis zum Ende des II. Weltkriegs wurden rund 50.000 Einwohner getötet, rund eine Million wurde evakuiert. Was für die meisten Berlinerinnen und Berliner unabwendbar war, hat sich die Journalistin Margret Boveri selbstbewusst gewählt. Sie kehrte im März 1944 aus dem sicheren Madrid in die umkämpfte Reichshauptstadt zurück, um das bevorstehende Ende des III. Reiches zu protokollieren.

Margret Boveri wurde 1900 in Würzburg geboren. Ihr Vater war Professor für Zoologie und vergleichende Anatomie an der dortigen Universität, die aus den USA stammende Mutter arbeitete als Biologin und ließ ihre Karriere zugunsten der Erziehung der einzigen Tochter ruhen. Nach dem Abitur 1920 studierte sie in Würzburg Sprachen, Geschichte und Zoologie mit dem Berufswunsch Lehrerin. Ihre Mutter ging 1926 zurück in die USA, wo sie in Boston ihre wissenschaftliche Arbeit wiederaufnahm. Ab 1927 arbeitete Margret Boveri als Sekretärin am Zoologischen Institut in Neapel, 1929 zog sie nach Berlin und begann ein Studium an der Deutschen Hochschule für Politik.

Ab 1934 volontierte sie für das „Berliner Tageblatt“, in den kommenden Jahren sollte sie eine der ersten erfolgreichen Frauen im seinerzeitigen Männerberuf des Journalismus werden. 1935 wurde sie von der Gestapo verhaftet, weil sie sich mit marxistischen Thesen auseinandergesetzt hatte. 1938 unternahm sie mit dem Auto eine große Orientreise, zwischen 1939 und 1943 arbeitete sie für die „Frankfurter Zeitung“ als Korrespondentin aus Stockholm und New York. Nach dem Überfall der Japaner auf Pearl Harbor 1941 wurde sie mit zahlreichen ausländischen Journalisten auf Ellis Island interniert und im Jahr darauf der USA verwiesen.

Ihre Freunde und Verwandten reagierten kopfschüttelnd, als Margret Boveri im März 1944 ins heftig umkämpfte Berlin zog. Sie begründete diesen waghalsigen Schritt mit beruflichem Ethos: „Ich glaube, was sich in Berlin ereignen wird, wird symbolisch sein fürs Ganze, und dies mitzuerleben bin ich doch zurückgekommen.“ In den Wochen und Monaten zwischen Krieg und Frieden schrieb sie Postkarten und Rundbriefe an ihre Vertrauten im Ausland, davon Kopien für ihr persönliches Archiv anfertigend. Diese Notizen und Überlegungen veröffentlichte sie im Jahr 1968 unter dem Titel „Tage des Überlebens. Berlin 1945“.

Dabei hat ihre vor der Herausgabe als Buch überarbeitete Reportage nicht nur Abbild und Detailtreue zum Ziel, sondern verfolgt auch einen stilistischen Anspruch: „Die Sache kommt näher und wird immer echter. Die Rauchwolken sehen aus wie auf den Schlachtbildern aus der napoleonischen Zeit.“ Inmitten der Bombardierung ganzer Viertel kann sie, die auch als externe Autorin für die Nazi-Wochenzeitschrift „Das Reich“ arbeitet, noch in einer intensiven Beschreibung das Theatralische des Feuers erkennen: „Einmal wurde der Krach, das Sausen, Zischen, Knallen und dazwischen das erdbebenartige Wackeln des Hauses so stark, daß ich aufstand; gerade recht für ein schaurig-schönes und durchaus kitschiges Schauspiel: Ein roter Leuchtkugelregen über dem Lietzenseepark, der die Gegend magisch beleuchtete.“

Dass die Wehrmacht am 8. Mai 1945 bedingungslos kapitulierte, wurde im verheerten Berlin kaum zur Kenntnis genommen; 600.000 Wohnungen waren zerstört, von vormals 4,3 Millionen Einwohnern lebten noch 2,8 Millionen in der Stadt, es gab selten Wasser und fast nichts zu essen. Boveri schreibt über das Ausweiden eines noch warmen Pferdekadavers auf der Straße, über das Plündern eines Grossistenlagers mit pharmazeutischen Artikeln, über Vergewaltigungen durch Soldaten der Roten Armee, über Trümmerräumen und das Anfertigen einer USA-Flagge aus Putzlumpen, Kissenbezügen und Damastdecken, über Essensreste, die GIs in den Müll werfen.

Neben diesen Darstellungen des Alltags im Zerbersten der politischen Ordnung ist es aufschlussreich, was in Boveris Aufzeichnungen fehlt: die Ebene einer Reflexion über den Terror des III. Reiches. Das Bewusstsein für die Dimensionen der Schuld, wie Karl Jaspers es 1946 formuliert – kriminell (vor Gericht zu klären), politisch (vom Sieger bestimmt), moralisch (mit dem Gewissen auszumachen), metaphysisch (von Gott zu befinden) –, geht ihr ab. Im Nachwort der Buchausgabe 1968 nimmt sie eine Haltung der Selbstdistanzierung ein: „Wir waren zu stark mit dem bloßen Überleben beschäftigt, um uns damals schon ganz bewußt zu werden, daß wir uns – und zwar nicht nur in bezug auf die Herrschaftssysteme – in einer neuen Epoche befanden und daß jeder Übergang eine Verwandlung bedeutet.“

Boveri blendet aus, dass mit dem Naziregime eine Clique von Verbrechern verschwindet. Es scheint kaum vorstellbar, dass sie als hoch gebildete Frau mit privilegiertem Zugang zu Informationen von der Existenz der Vernichtungslager keine Kenntnis gehabt hätte – kein Wort davon in „Berlin 1945“. In den Nachkriegsjahren haderte sie mit der deutschen Teilung; sie schrieb als freie Autorin von Westberlin aus für die „FAZ“, die „ZEIT“, die „Welt“, den „Merkur“ und die „Badische Zeitung“.

1970 erhielt sie für ihre publizistischen Verdienste das Bundesverdienstkreuz I. Klasse, zum Ende ihres Lebens 1975 machte sie ihren Frieden mit der Ostpolitik Willy Brandts, die eine Annäherung beider deutscher Staaten einleitete. Offen bleibt die Frage, die ihr nicht nur Uwe Johnson stellte: Warum eine Intellektuelle mit ihrem Wissen, ihren Kontakten und Möglichkeiten eine Emigration nicht einmal in Erwägung gezogen hat, um sich stattdessen in heikler Nähe zum Regime der Gefahr seelischer Verbrennungen auszusetzen?