Der „Brexit“, der mögliche Auszug der Briten aus der Europäischen Union (EU), hat das Zeug zum Wort des Jahres 2016, weil die Debatte das Unbehagen vieler Bürger mit Brüssel auch hierzulande verdichtet. Der konservative Premierminister David Cameron hat das Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU angesetzt, um seine europaskeptischen Parteifreunde zu beruhigen. Die in wenigen Tagen anstehende Abstimmung offenbart die Fraktionierung der britischen Gesellschaft, der Ausgang ist offen, auch nach dem Mord an der für ein Bleiben werbenden Labour-Abgeordneten Jo Cox.
Der 2015 drohende „Grexit“ im Rahmen der Finanzkrise wäre ein konzertierter Rauswurf Griechenlands aus der Euro-Zone gewesen, der „Brexit“ wäre ein launiges Good-bye der Briten in Richtung Kontinent. Dabei sind in weiteren Ländern kritische Stimmen gegen „Brüssel“ zu hören: Bei einem Erfolg Marine Le Pens bei den Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2017 stünde die Mitgliedschaft Frankreichs, eines der Gründungsmitglieder der EWG, der Vorläuferin von EG und EU, zur Disposition. Was läuft falsch in Europa, dem größten Binnenmarkt der Welt, mit offenen Grenzen, eigener Währung und Arbeitnehmerfreizügigkeit?
Das Verhalten der Osteuropäer zeigt, wie sehr die EU vom eigenen Erfolg gelähmt ist. 1957 im Geiste der Aussöhnung der einstigen Kriegsgegner Deutschland und Frankreich als Sechserclub gegründet, kamen mit den Jahrzehnten immer weitere Länder hinzu, um vom durchschlagenden Erfolg des Marktes zu profitieren. Für die Länder des ehemaligen Warschauer Paktes ist Brüssel eine willkommene Subventionsagentur zur Finanzierung ihrer Infrastruktur, der Euro macht eigene Produkte konkurrenzfähig, Arbeits- und Studienplätze im Westen werden dankbar genommen. Und die NATO, in weiten Teilen mit der EU identisch, soll selbstredend militärischen Schutz vor einer russischen Aggression bieten.
In der aktuellen Flüchtlingskrise argumentieren die Polen, Balten, Ungarn, Tschechen und Slowaken offen rassistisch mit dem Hinweis, die muslimischen Fremden passten nicht zur eigenen Kultur. Von (ost)europäischer Solidarität, wie sie die deutsche Bundeskanzlerin im letzten Sommer beschwor, keine Spur. Der EU mangelt es an Sanktionsmöglichkeiten gegenüber Mitgliedern, die hemmungslos egoistisch agieren, sobald eine faire Lastenverteilung auf der Agenda steht. Neben der Aufblähung der EU auf jetzt 28 Staaten ist die fehlende Option einer zentral beendeten Zugehörigkeit eines Landes der schlimmste Konstruktionsfehler der Gemeinschaft.
Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass ein beträchtlicher Teil der Briten sich lieber nach Übersee orientiert. Dabei sind die Waliser, Schotten und Nordiren tendentiell für einen Verbleib in der EU, die Engländer mehrheitlich dagegen; in den Metropolen ist die Stimmung pro-europäisch, auf dem Land dominieren die Gegner. Ein „Brexit“ wäre kaum das Ende des Vereinigten Königreiches, Monarchie und Premier League garantierten in bewährter Brot-und-Spiele-Manier die Zähmung der Abgehängten. Zudem machen es Norwegen und die Schweiz seit Jahren vor, wie gut es sich abseits der Brüsseler Bürokratie lebt. Eine Splendid Isolation gehört obendrein zum imperialen Erbe Great Britains.