Das Delirium ist gewiß schöner als der Zweifel, aber der Zweifel ist fester. – E. M. Cioran
Die Bundesregierung, vor gut einem Jahr ins Amt gewählt, hat sich für die 20. Legislatur einiges vorgenommen. Auch in die Drogenpolitik, in den letzten Jahrzehnten eher ein Stiefkind der Legislative, kommt Bewegung. So haben die drei Fraktionen der Ampel im Koalitionsvertrag angekündigt, eine „kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizensierten Geschäften“ einzuführen. Der Drogenbeauftragte der Bundesregierung hat im Sommer eine Konsultation mit unterschiedlichen Sachverständigen auf den Weg gebracht, aus dem federführenden Bundesgesundheitsministerium heißt es, dass es noch im laufenden Jahr 2022 einen Gesetzentwurf geben solle.
Begründet wird dieses Vorhaben laut Koalitionsvertrag mit der so erlaubten Qualitätskontrolle der Substanz, des Verhinderns der Beigabe schmutziger oder gar giftiger Streckmittel sowie der Gewährleistung des Jugendschutzes. Von Therapeuten, Suchtfachleuten und Aktivisten aller Couleur wird dieser Schritt seit langem gefordert; dass er nun in greifbare Nähe rückt, sorgt für mehr Verwunderung als Freude ob des möglichen Ergebnisses. Auch wenn durch den Krieg in der Ukraine sowie der heftigen Inflation und der Explosion der Energiepreise andere Themen oben auf der Agenda der Regierung stehen, ist dieses Vorhaben der Legalisierung von Cannabis löblich, richtig und fällig. Gegebenenfalls werden Haschisch und Marihuana bereits im Sommer 2023 ganz legal in Deutschland verkauft werden.
Die jetzige Rechtslage ist in Teilen klar, in Teilen willkürlich. So stehen bundesweit gemäß Betäubungsmittelgesetz die Produktion, der Erwerb, die Verarbeitung, der Verkauf und der Besitz von Cannabis unter Strafe; ob das Rauchen eines Joints oder das Essen eines Kekses tatsächlich zu einem Verfahren und einer Verurteilung führen, hängt von der jeweiligen Staatsanwaltschaft ab. Kommt sie zum Ergebnis, dass es sich um einen lässlichen Gelegenheitskonsum handelt, kann sie das Verfahren wegen Geringfügigkeit einstellen. Hierbei liegt die Menge des als Bagatelle eingestuften Besitzes in Bayern oder Baden-Württemberg sicher niedriger als in Hamburg oder Bremen. Auch spielt es eine Rolle, ob der Verdächtige bereits einschlägig aufgefallen ist, ob er ins demografische Raster eines Händlers passt oder ob gerade Wahlen vor der Tür stehen, die dem jeweiligen Innenminister die Möglichkeit geben, sich als harter Hund zu inszenieren.
Unter Auflagen kommt in Deutschland sogenannter Medizinalhanf im Krankheitsfall zum Einsatz. So führt die muskelentspannende Wirkung des Tetrahydrocannabinol (THC), der begehrten Ingredienz des Haschisch, etwa zur segensreichen Erleichterung bei Arthroseschmerzen oder Spasmen bei Multipler Sklerose; bei der Chemotherapie bei Krebs kann Cannabis die oft heftigen Übelkeitsattacken lindern; bei zehrenden Krankheiten wie Krebs oder Aids kann Cannabis den Appetit anregen; bei Psychosen kann die Substanz angstlösend und beruhigend wirken. Auch wenn es bei manchen Symptomen zu einem Off-Label-Use kommt, das verordnete Präparat also nicht für den Einsatzzweck zugelassen ist, aber trotzdem zuverlässig wirkt: Wie immer in der Medizin ist es die Dosis, die das Gift macht.
Voller Wehmut geht der Blick in Richtung Niederlande, wo es seit etwa fünf Jahrzehnten Haschisch und Marihuana in sogenannten Coffee-Shops zu erwerben gibt. Die Anwesenheit der Droge wird liberal geduldet, der Besitz von bis zu 5 g pro Person wird nicht weiter verfolgt. Gerade aus Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen werden manche Touristen über die nahe Grenze fahren, um sich im Coffee-Shop mit dem Gewünschten einzudecken. Die Läden liegen meist in den Seitenstraßen der Innenstädte, ihre Schaufenster sind blickdicht verklebt wie hierzulande Spielotheken, Wettbüros oder Sexshops, um keine Passanten anzuziehen. Am Tresen gibt es ein Menü, aus dem man aus verschiedenen Angeboten wählen kann, lediglich das Alter der Kunden wird vom Personal kontrolliert. Eine gelungene Integration der Droge in den Alltag.
Von den Gegnern einer kontrollierten Freigabe wird darauf verwiesen, dass Cannabis das noch nicht ausgereifte Hirn von Jugendlichen schädigen, zu dauerhafter Lethargie und Schwierigkeiten in der Schule und in der Ausbildung führen könne. Das ist nicht von der Hand zu weisen, deswegen hat eine untere Altersgrenze von 18 Jahren für den freien Konsum, wie projektiert, ihren Sinn. Junge Erwachsene, vielleicht noch nicht restlos gefestigt oder neugierig auch auf andere Präparate, kommen beim Erwerb von Cannabis im lizensierten Geschäft nicht in die Verlegenheit, sich dem tückischen Angebot anderer, härterer Drogen zu stellen. Sie wissen überdies, dass das gepresste Harz oder die getrockneten Blüten der Pflanze rein sind und nicht mit Lehm, Schuhcreme oder Plastikfasern verdreckt.
Der Umgang mit Drogen aller Art ist kulturell durchaus unterschiedlich, so wie ihre Wirkungen aufputschend, benebelnd, euphorisierend oder psychodelisch sein können. In Deutschland ist Alkohol problemlos jederzeit und überall zu erhalten, teilweise billiger als Tee, Saft oder Milch. In Skandinavien gibt es in den Supermärkten nur dünnes Bier, alle weiteren Alkoholika, vom Wein über den Likör bis zum Schnaps, kann man nur in staatlichen Läden beziehen, dort mit horrenden Steuern belegt. Trotz dieser Quasi-Prohibition im Norden Europas ist dort die Rate der Alkoholkranken chronisch höher als bei den Mittelmeeranrainern, wo der Wein zum Salat bereits zum Mittagessen dazugehört. In den Ländern Osteuropas liegt die Quote der Raucher über der des restlichen Kontinents, hier führt der Wodka verlässlich zu vielen frühzeitigen Todesfällen. Im Iran, in Afghanistan, in Indien und in Thailand ist das Rauchen von Opium eine Jahrhunderte währende kulturelle Praktik; der Anbau von Mohn und dessen Verarbeitung zu Morphium ist offiziell verboten, aber Teil der Schattenwirtschaft.
Führende Suchtmediziner schätzen die Zahl der Cannabis-Konsumenten in Deutschland auf etwa 4 Millionen, ohne die Zahl der psychisch Süchtigen exakt angeben zu können; körperliche Abhängigkeit oder Schädigungen der Organe und Blutgefäße sind nicht zu erwarten. Rund 1,6 Millionen Menschen werden als alkoholkrank eingestuft, bei weiteren 1,7 Millionen Menschen gilt der Alkoholkonsum als gesundheitsgefährdend. Die Zahl der Menschen, die von legal verschriebenen Medikamenten – Analgetika, Barbiturate, Psychopharmaka, Tranquilizer – abhängig sind, wird mit bis zu 1,9 Millionen angegeben; die Süchtigen dieser „weißen“ Drogen sind mehrheitlich Frauen jenseits der 50. Die Zahlen der Konsumenten sogenannter harter Drogen – Heroin, Kokain, Amphetamine – liegen im niedrigen sechsstelligen Bereich.
Ein soziales Plus des Cannabis-Genusses liegt, abseits der quantitativen Ausmaße, in seiner befriedenden Wirkung. Wer Cannabis raucht oder isst, wird nicht laut oder aggressiv, sondern erfährt eine Feinstellung der Sinne; die Konzentration geht nach innen, Reflexion und noch mehr Kontemplation werden angeregt. Schlägereien und ganz allgemein Gewalt treten routiniert in Kombination mit Alkohol auf, im Privaten wie im Straßenverkehr, wie jeder Polizeibericht offenbart. Menschen unter Haschischeinfluss ziehen sich zurück, geben sich ihrem Rausch hin und feiern ihr Hochgefühl oder gar ihre Bedürfnislosigkeit. Das Sedativum Cannabis stellt so gut wie nie eine Gefahr für sich selbst und für andere dar, ganz anders als Alkohol, dessen Allgegenwart zusätzlich verführt.
In der Drogenpolitik hat man sich schon lange vom Ziel der Abstinenz verabschiedet, dazu gehören das Dionysische und der Exzess einfach zu einer Gesellschaft dazu. Das Entscheidende ist die kulturelle Rahmung, wie man es gut beim rituellen Besäufnis des laufenden Oktoberfestes beobachten kann. Aufgerüscht im Dirndl oder in der Krachledernen, beim distinktiven Preis von 14,- Euro pro Maß, aufgepeitscht von Ballermannmusik im stickigen Zelt, geht das kollektive Komasaufen als Folklore durch. Die flankierenden Prügeleien, Kotzorgien und sexuellen Übergriffe sind für den Cannabis-Genuss untypisch. Hier werden andere Rezeptoren im Hirn angesprochen und andere Belohnungen verheißen, der Rausch ist der postkoitalen Schlaffheit vergleichbar. Ein Lob der Ruhe und der wohligen Ermattung.
Der Plan der Ampelkoalition, Cannabis zu Konsumzwecken zu legalisieren, ist vernünftig und trägt der verbreiteten klandestinen Praxis in Deutschland Rechnung. Seine Verwirklichung wird Millionen Menschen aus der Grauzone der Kriminalität herausholen und unverhältnismäßige Strafverfahren beenden. Man kann nur hoffen, dass die groteske Schieflage in der Rechtsprechung ebenfalls überholt werden wird: Wer hierzulande im volltrunkenen Zustand mit dem Auto einen Menschen totfährt, darf mit einer Bewährung rechnen; wer zu Weihnachten Plätzchen mit einer Prise Haschisch backt, muss des Verlustes des Arbeitsplatzes gewärtig sein. Die anstehende Legalisierung nimmt den erwachsenen Menschen, der weiß, was er genießt, ernst; sie bestraft nicht länger seine Sehnsucht, sondern garantiert ihm einen klinisch geprüften Rausch, dem er sich so oder so öffnet.
Bei der geplanten Legalisierung von Cannabis zu Konsumzwecken werden auch die Erfahrungen anderer Länder berücksichtigt. Die Niederlande sind zum einen Vorbild beim nicht gestiegenen Verbrauch seit der kontrollierten Abgabe, behalten aber ihr Lieferproblem für die Händler der Coffee-Shops. Der deutsche Staat sollte also nicht nur die Abgabe des Cannabis, sondern auch seine Einfuhr, seine Verarbeitung und seine Inhaltsstoffe kontrollieren; wie in Kanada, wo Privatpersonen bis zu 30 g Haschisch mitführen dürfen. Die zu erhebenden Steuern für die legalisierten Produkte können in die Aufklärung und einen möglichen Entzug fließen. So bleiben am Ende nur Gewinner: Die Konsumenten werden nicht länger kriminalisiert, die Polizei kann sich dem Kampf gegen harte Drogen widmen, der Staat verdient am kanalisierten Verbrauch, der Schwarzmarkt wird ausgetrocknet. Und am Ende steht eine DIN-Norm für sauberes Haschisch.