Casablanca

  Du must Dein Leben ändern – Rainer Maria Rilke

Casablanca bedeutet im Spanischen und Arabischen das „Weiße Haus“. Casablanca ist mit rund 3,5 Mio. Einwohnern die größte Stadt Marokkos und liegt dramatisch gelegen direkt an der Atlantikküste. Der Name der Stadt erlangte durch den 1942 veröffentlichten titelgleichen Film mit Ingrid Bergman und Humphrey Bogart Berühmtheit; heute ist Casablanca eine laute, heiße, schmutzige und übersiedelte Stadt im Maghreb, deren französisches Erbe in der Sprache und im Kolonialstil der Bauten im Zentrum noch greifbar ist. Im 20. Jahrhundert avancierte Casablanca zum Mekka für zahllose Transfrauen, deren Ziel die Clinique du Parc des Gynäkologen Georges Burou war, der hier neben seinem Hauptberuf als Geburtshelfer genitaltransformierende Operationen durchführte.

Georges Burou wurde 1910 in Algerien als Sohn eines französischen Lehrers geboren. Er studierte Medizin und wurde Gynäkologe. Nach seinem Militärdienst Anfang der 1940er Jahre ließ er sich in Casablanca nieder und praktizierte in seiner Klinik für Frauenheilkunde. 1956 erprobte er auf massives Drängen einer Angestellten eines Pariser Nachtclubs eine geschlechtsangleichende Operation. Solche chirurgischen Eingriffe wurden seinerzeit höchst selten durchgeführt, Burou hat sich seine bahnbrechende Technik selbst beigebracht und in den kommenden Jahren immer weiter vervollkommnet. In den 1960er Jahren machten sich etliche Transfrauen aus ganz Europa und den USA auf den Weg nach Casablanca, um hier ihr ersehntes Geschlecht zu bekommen. 1976 führte Georges Burou die letzte dieser Operationen durch, er starb 1987 bei einem Bootsunfall im Atlantik.

Nach dem gewaltigen Aufsehen, das die Behandlung Christine Jorgensens 1952 in Kopenhagen erregt hatte, zuckten die wenigen willigen und fähigen Chirurgen vor einem solchen Eingriff zurück, zu groß erschien ihnen das Risiko des Verlustes ihres professionellen Rufes als Mediziner. Georges Burou in Casablanca ging einen pragmatischen Weg. Er stellte keine Fragen, unterzog seine Patientinnen keiner langwierigen psychologischen Untersuchung, war überhaupt an der wissenschaftlichen Forschung zum Phänomen Transidentität nicht sonderlich interessiert, wollte stattdessen das Geld für Operation und Klinikaufenthalt bar im Voraus haben. Der Aussage seines Sohnes Alain zufolge hat er diesen Teil seiner Arbeit in der Clinique du Parc als Spiel begriffen. Georges Burou suchte nicht von sich aus die Öffentlichkeit; erst 1973, als bereits Chirurgen weltweit auf seine zum Goldstandard gewordene Technik zurückgriffen, präsentierte er seine Methode auf einem Symposium der Universität Stanford.

Hierbei liegt die Patientin im OP-Saal wie auf einem gynäkologischen Stuhl, die Beine weit gespreizt, die Unterschenkel auf stützenden Schalen abgelegt, das Schamhaar penibel rasiert. Hodensack und Penis werden nach oben geklappt und fixiert, darunter wird nun ein Längsschnitt gezogen, ohne Anus und Damm zu verletzen; das freigelegte körperinnere Gewebe wird ausgeräumt, es bildet die Höhle der zu schaffenden Vagina. Der Hodensack wird im nächsten Schritt längs aufgetrennt, die Testikel werden entnommen, das Hodensackgewebe wird beidseitig aufgerollt und zu äußeren Schamlippen geformt. Im nächsten Schritt wird die Haut des Penis wie bei einer Banane bis zum Schaft heruntergezogen, invertiert und zur Auskleidung in die Neovagina gestülpt; ein Stopfen fixiert die empfindliche Haut und erlaubt das Anwachsen. Nun wird der blutige Penisrest amputiert, dabei wird der Ausgang der (nun stark verkürzten) Harnröhre an typisch weiblicher Stelle platziert. Zum Schluss wird ein kirschkerngroßes Stück der penilen Eichel als Klitoris oberhalb der Vulva aufgesetzt – et voilà.

Georges Burou, oft lässig wie für den Strand gekleidet mit seinem Côte d’Azur-Appeal, sagte von sich, er verwandle nicht Männer in Frauen, er transformiere männliche Genitalien in weiblich anmutende, der Rest geschehe im Kopf der Patientin. Etwa eine Woche nach dieser notwendig irreversiblen Operation werden die Fäden gezogen, die Blutung ist gestillt, Tamponade, Katheter und Drainage werden entfernt. Die Patientin muss nun sorgfältig ihre neue Vagina mit einem Dildo in der Tiefe dehnen, damit sie nicht von innen wieder zuwächst. Wenn die Post-OP-Schmerzen abgeklungen sind und der gesamte Genitalbereich abgeschwollen ist, kehrt die Patientin wieder in ihren Alltag zurück; die ersten Schritte sind noch etwas unbeholfen, das Wasserlassen nun für immer im Sitzen ist eine kleine Sensation. Mit der Neovagina ist unter Einsatz von Gleitgel ein empfangender Geschlechtsverkehr möglich, die sensible nervendurchzogene Haut des ehemaligen Penis schenkt die Fähigkeit zum Orgasmus, wie immer wieder berichtet wird.

Nach eigenen Angaben hat Georges Burou rund 3.000 dieser genitaltransformierenden Operationen durchgeführt, er darf mit Fug und Recht als Pionier nicht nur dieser besonderen Chirurgie, sondern auch der Beförderung der Anerkennung der Transidenten bezeichnet werden. In den 1960er Jahren gab es für Transfrauen in beruflicher Hinsicht kaum mehr als die Wahl zwischen Jet-Set und Prostitution. Weibliche Hormone wurden unter der Hand erworben und ohne regelmäßige ärztliche Kontrolle genommen (die Pille zur Verhütung bekam erst 1960 die Zulassung für den Markt), verlässliche Informationen über behandlungsbereite Ärzte waren nur schwer zu bekommen, die Kommunikation fand lediglich im Spannungsfeld von Boulevard und Halbwelt statt. Burou agierte in einer rechtlichen Grauzone, da er rein anatomisch gesunde Körperteile zerstörte; auch daher war er an Publicity nicht interessiert. Schweden erließ 1972 das erste Gesetz, das es Transidenten erlaubte, legal den Vornamen und den Personenstand zu ändern; ein vergleichbares Gesetz wurde in Deutschland 1980 verabschiedet.

Heute kann man den Eindruck gewinnen, Transidentität sei als Lebensweise im Mainstream angekommen. Es gibt spezielle Ambulanzen, die Kindern mit transidenter Symptomatik Pubertätsblocker verabreichen; die gesetzlichen Krankenkassen übernehmen unter Auflagen die Kosten der Operation(en) und der lebenslang erforderlichen Hormonersatztherapie; es liegen in Deutschland Gesetzentwürfe vor, nach denen der Wechsel des Geschlechtes allein vom Willen der Antragstellerin (m/w/d) abhängen soll; die plastische Chirurgie hat beträchtliche Fortschritte gerade in der Feminisierung des Gesichtes gemacht; auf YouTube lassen junge Leute ein Massenpublikum an ihrer Transition teilhaben. Ob es heute wirklich signifikant mehr Menschen als noch vor 40 oder 60 Jahren sind, die sich mit klinischer Hilfe aus ihrem Geburtsgeschlecht in ein anderes aufmachen, ist empirisch nicht ausgemacht. In jedem Fall verhält sich ihre schiere Zahl disproportional zur medialen Aufmerksamkeit.

Die Krux des Diskurses über Transidentität (oder nach heutigem Sprachgebrauch Transgender) ist die Fokussierung auf die Operation. Sie ist für die sie begehrenden Menschen ohne Frage wichtig bis existenziell, aber sie ist im Wortsinn nur ein biographischer Einschnitt. Wie es den Menschen, die oft Jahre ihres Lebens unter seelischen Kämpfen, familiären Opfern und finanziellen Entbehrungen auf dieses eine Ziel hingewirkt haben, in der Folge geht, steht dann nicht mehr im Interesse der Medien. Die Frauen, die zu Georges Burou nach Casablanca kamen, wurden überwiegend in den 1930er Jahren geboren und sind heute hoch über 80. In den erhaltenen Zeugnissen ihrer Leben im Alter ist eine tiefe Dankbarkeit gegenüber Burou zu spüren, der sie ihrem Verständnis nach zu glücklichen Menschen gemacht hat. Doch erleben sie immer wieder, dass sie als Frauen von der Gesellschaft nicht akzeptiert werden. Eine Engländerin mit zauberhafter Schönheit wird permanent von der Yellow Press belästigt, kann in ihrer Heimat in keinem bürgerlichen Beruf Fuß fassen und lebt als Partyqueen auf Ibiza. Eine Belgierin, Tänzerin in einem Varieté, erfährt ein ums andere Mal, dass ihre Liebhaber sie verlassen, nachdem sie ihnen Einblick in ihre Vergangenheit gewährt hat.

Diese tapferen Frauen, eine jede Veteranin und Pionierin, sind in der heutigen Szene vergessen. Dabei hätten sie hoch spannende Dinge zu erzählen, zu medizinischen wie sozialen Themen. Die Forschung interessiert sich kein bisschen für die Gesundheit der betagten Damen, für die Nebenwirkungen einer lebenslangen (biologisch gegengeschlechtlichen) Hormonbehandlung, für möglicherweise gestiegene Prävalenzen für Arthrosen, Thrombosen, Leber- und Schilddrüsenschäden, Osteoporose, Krebs, Diabetes, Demenz, Depression oder Suizidalität. Es wird vielmehr gestritten über die politisch korrekte Anrede, ohne einen Blick auf die Lebensrealitäten der Frauen zu werfen, wie sie mit der Zusatzbelastung Trans zurechtkommen. Eine Französin lässt nach Jahrzehnten das Cabaret hinter sich, geht noch einmal an die Universität und wird mit Ende 40 Lehrerin in der Provinz; eine Niederländerin geht in Ehe und Hausfraulichkeit auf, beginnt zu malen und erträgt stoisch das Getuschel der Leute auf der Straße; eine Deutsche nimmt ihrer japanischen Gefährtin zuliebe die männliche Rolle auf Zeit wieder an und führt im Alter einen neutralen Vornamen, der ihr den Frieden sichert. Haben sie schließlich das Rätsel Geschlecht, wie es eine von ihnen, eine Britin, die „vorher“ an der Erstbesteigung des Everest beteiligt war, nennt, gelöst? Ihr Weg, wo auch immer er seinen Anfang nahm, führte sie schwesterlich vor 50 und mehr Jahren nach Casablanca, in ihr individuelles Fegefeuer. Ob sie sich danach im Paradies wiederfinden, ist eine Frage der Perspektive. Sie haben das Gelobte Land zumindest zu Lebzeiten gesehen.