Copenhagenize

Life-size cities. Städte fürs Leben. So einfach lässt sich das Konzept Mikael Colville-Andersens zur Befreiung der chronisch autoverstopften Städte verdichten. Der Däno-Kanadier gründete 2009 die Copenhagenize Design Company, der er heute als CEO vorsteht. Ein Team aus Architekten, Stadtplanern, Designern und Soziologen (m/w) widmet sich von Kopenhagen aus der (verkehrs)politischen Beratung von Städten. Das Fahrrad spielt bei der Umgestaltung des urbanen Raumes eine prominente Rolle als Mobilitätselement. Das jüngst publizierte Buch Copenhagenize – The definitive guide to global bicycle urbanism fasst das Credo Colville-Andersens und seiner Mitstreiter beredt zusammen.

Der ausgebildete Drehbuchautor und Regisseur argumentiert weniger identitär, vielmehr pragmatisch. In der gut 7.000 Jahre währenden Geschichte der Städte spielte sich das soziale Leben zum großen Teil auf den Straßen und Plätzen ab. Im 19. Jahrhundert stellten die Verstädterung im Zuge der Industriellen Revolution und der beginnende Siegeszug des Verbrennungsmotors die Situation in Europa und Nordamerika auf den Kopf. Städte wurden nicht länger für Menschen geplant, sondern für Maschinen; Fahrräder und Fußgänger, die bis in die 1950er Jahre rund 50 % des Verkehrsaufkommens ausmachten, wurden im Wortsinn an den Rand gedrängt. Das Leitmotiv der „life-size city“ stellt daher ein Zurück in die Zukunft dar, angesichts der globalen Landflucht und der wachsenden Agglomerationen in Afrika und Asien ein Megathema des 21. Jahrhunderts.

Das Büro Copenhagenize Design gibt seit 2011 den Index der fahrradfreundlichen Städte heraus, der anhand von 14 Parametern vergleichende Messungen erlaubt. Beispielhafte Variablen sind etwa die offizielle Stadtplanung, der Einfluss von NGO auf die städtische Verkehrspolitik, die Geschlechterverhältnisse auf dem Rad, die Existenz einer Fahrrad(sub)kultur, die vorhandene Fahrradinfrastruktur, Radunfälle bezogen auf den Gesamtverkehr sowie Tempolimits und Verkehrsberuhigungen. Verlässlich auf dem Treppchen landen Kopenhagen, Amsterdam und Utrecht. Im jüngsten Index 2017 finden sich unter den Top 20 mit Berlin (10), München (15) und Hamburg (17) überraschend drei deutsche Metropolen, die für ihre blechgefüllte City berüchtigt sind.

Das Buch beschreibt Zustand und Utopie in einem. In Kopenhagen ist es für viele Menschen aller Altersstufen selbstverständlich, in Sicherheit zu radeln: Es gibt ein dichtes Netz an breiten Fahrradstraßen, die im Winter vom Schnee geräumt werden; gut 600 Fahrradläden bieten unkompliziert Service, Verkauf und Pannenhilfe; spezielle Ampeln gewähren Fahrrädern eine grüne Welle; überall finden sich Bügel zum Anketten des Rades etc. In deutschen Städten hingegen ist das Fahrrad kein gleichberechtigtes Verkehrsmittel – wer sich in den Sattel schwingt, fährt gefährdet. Das liegt zum einen am schrankenlosen Einfluss der Automobilindustrie auf die Verkehrspolitik und Stadtplanung des Bundes und der Kommunen, zum anderen am Weiterleben der autogerechten Stadt der 1950er und 60er Jahre in den Köpfen und Füßen der Menschen.

Nur zögerlich kommt die Einsicht in die Notwendigkeit der Stadtplanung 2.0 auch in Deutschland an. Copenhagenize gibt praktikable Rezepte in Richtung vernetzter Mobilität inklusive der Hebung der Attraktivität des ÖPNV. Dabei versteht sich Colville-Andersen nicht als „cyclist“, sondern als  „citizen“, der seine Mobilitäts- und Logistikbedürfnisse mit dem sich anbietenden Gerät befriedigt: „Das Fahrrad gehört in die Städte. Es steht für Transport und Einkaufen, es ist eine Hilfe für Familien und eine analoge Dating-App. Diese menschliche Form des Verkehrs repräsentiert die perfekte Synergie zwischen Technologie und dem menschlichen Verlangen nach Bewegung.“

Das im Unternehmensnamen verwendete Design meint den Entwurf einer Gestaltung (vom italienischen disegnare = beabsichtigen, bezeichnen). Im Deutschen wird das Design überwiegend auf die ästhetisch-dekorative Seite eines Gegenstandes reduziert, sein Gebrauchswert fällt dabei oft unter den Tisch. Durchdachtes Design drängt sich nicht auf, sondern erfüllt seinen definierten Zweck. Farblich markierte, breite und regelmäßig gewartete Radstraßen wie in Kopenhagen sind Open-Source-Monumente, die ikonisch für die Stadtkultur stehen und andernorts anschlussfähig sind. Wird die geeignete Infrastruktur zur Verfügung gestellt, treten die Menschen in die Pedale.

Die flächen- und bevölkerungsmäßig kleinen Länder Dänemark und die Niederlande mit ihren großen Designtraditionen repräsentieren in Sachen urbanen Radverkehrs die internationale Avantgarde, während in Deutschland Ingenieure die Stadtplanung unter ihrer Fittiche haben und dabei benzinzentrierte Lösungen anstreben, ohne die Menschen nach ihren Bedürfnissen zu fragen. Willfährige Schützenhilfe bekommen die politischen Entscheider von der Werbung, die Autos als Fetisch inszeniert, ohne je die Frage nach ihren gesellschaftlichen Kosten zu stellen. Angesichts der Verletzten und Getöteten auf den Straßen müsste jede Karosserie einen weithin sichtbaren Warnhinweis à la „Autofahren stellt eine ernste Gefahr für Sie und Ihre Mitmenschen dar“ tragen.

Die Schaffung einer lebenswerten Stadt mit weniger Lärm und gesünderer Atemluft, mehr Bäumen und weniger Unfallopfern beginnt nach Colville-Andersen mit einem Paradigmenwechsel. Nur weil Autos seit vier Generationen alle erdenklichen Privilegien genießen, muss das nicht so bleiben. Die einschlägigen Berichte und Bilder aus der dänischen Hauptstadt wirken dabei so betörend wie verheißend. So wie das Zeitalter des Erdöls seinem Ende entgegen geht, gerät auch die Arrogance of Space unter Druck: „Es ist eine Tatsache, dass Autos keinen Platz mehr haben in den großen Städten unserer Zeit.“ So sieht es Bertrand Delanoë, von 2002 bis 2014 Bürgermeister von Paris.