Ein kluger Herrscher kann und darf daher sein Wort nicht halten, wenn ihm dies zum Nachteil gereicht und wenn die Gründe fortgefallen sind, die ihn veranlaßt hatten, sein Versprechen zu geben. – Niccolò Machiavelli, Il Principe
Die Wahl zum neuen Bundestag liegt noch keinen Monat zurück, dessen konstituierende Sitzung ist für die kommende Woche angesetzt. Ohne jede Parallele in der Geschichte des deutschen Parlaments nach 1945 hat der alte Bundestag nun im Vorbeigehen in einer Hals über Kopf anberaumten Sondersitzung eine Änderung des Grundgesetzes auf den Weg gebracht, die der neuen Regierung im neuen Parlament einen gewaltigen finanziellen Spielraum einbringen soll. Es geht im Kern um das Aufweichen der Schuldenbremse, die der Kreditaufnahme des Bundes Grenzen setzt – und die der designierte Kanzler im zurückliegenden Wahlkampf noch für sakrosankt erklärt hatte.
Ein Coup ist ein riskantes, am Ende gelungenes Unternehmen. Der Begriff ist entlehnt aus dem französischen coup, was so viel wie der Streich oder der Schlag bedeutet. Als solcher darf das Vorgehen der Unionsfraktion im 20. Bundestag gelten, wo sie sich zwittrig als Opposition wie als Regierung gebärt. Der von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD – den mutmaßlichen Koalitionären der 21. Legislatur – eingebrachte Gesetzentwurf (Drucksache 20/15096) sieht Änderungen der Artikel 109 und 115 sowie die Schaffung eines neuen Artikels 143h der Verfassung vor. Diese führen zum einen zur Schaffung eines „Sondervermögens“ (also zusätzliche Schulden, die vom regulären Haushalt ausgenommen sind) in Höhe von 500 Mrd. € für die Infrastruktur; zum anderen zur Ertüchtigung der Bundeswehr dadurch, dass Verteidigungsausgaben, die ein Prozent der nationalen Wirtschaftsleistung überschreiten, von der Schuldenbremse ausgenommen werden. Zudem können unter Militärausgaben künftig auch Zivil- und Bevölkerungsschutz, IT-Sicherheit, Nachrichtendienste sowie „Hilfe für völkerrechtswidrig angegriffene Staaten“ fallen.
Warum diese halsbrecherische Hektik bei einer keineswegs trivialen Änderung des Grundgesetzes? Der gegenwärtige Oppositionsführer und wohl künftige Kanzler begründet diesen Streich im genannten Gesetzentwurf mit der sich verschärfenden Weltlage: Die USA wandelten sich vom Bündnispartner zum unsicheren Kantonisten, seien nicht länger unbedingter Garant für Freiheit und Sicherheit Deutschlands und Europas. Daher müsse Deutschland deutlich mehr als bisher für seine Verteidigung ausgeben. Neben dem Minus der Ausgaben für die Armee schleppe Deutschland zudem ein Investitionsdefizit für die Infrastruktur mit sich herum, seien es Schulen, Straßen und Brücken, Krankenhäuser, digitale Netze und Schienen. Diese Leistungen sind teils vom Bund, teils von den Ländern, teils in Kooperation zu erbringen. Warum die Verfassungsänderung aber unbedingt noch vor der Konstituierung des neu gewählten Bundestages über die Bühne gebracht werden soll, verschweigt der Kanzler in spe schamhaft.
Die Vorstellung wird auf den letzten Metern der 20. Legislatur gegeben, weil es die alte 2/3-Mehrheit aus Union, SPD und Grünen gerade noch so erlaubt; ein Zusammengehen mit der AfD und den Linken in der 21. Legislatur gilt definitiv als ausgeschlossen („Brandmauer“). Mit anderen Worten: Der alte, abgewählte 20. Bundestag soll der kommenden Regierung im 21. Bundestag einen schwindelerregend vergrößerten finanziellen Spielraum verschaffen; simultan dazu verhandeln die Union und die SPD über die Bildung einer Regierung, die dann der 21. Bundestag mit absoluter Mehrheit wählen soll. Hier wird eine Zwischenzeit des Parlaments durch perfide Verfahrenstricks für das komfortable Regieren in der 21. Legislatur missbraucht – daran kann man ohne böse Absicht einen Coup d’état erkennen. Derweil sitzen die Ruinen der noch geschäftsführenden Regierung wie Untote im Plenarsaal, von ihrer Funktion einstiger Intendanten zu jener der Rezensenten degradiert.
Die in den letzten Wochen heftig umworbenen Grünen lassen sich ihre Kollaboration bei dieser Tragödie teuer bezahlen: Vom sogenannten Sondervermögen in Höhe von 500 Mrd. € fließen 100 Mrd. € in den Klima- und Transformationsfonds (KTF); weitere 100 Mrd. € sollen den Ländern zukommen, die im Bundesrat noch zustimmen müssen. Zudem soll die „Klimaneutralität bis 2045“ als Staatsziel in die Verfassung aufgenommen werden. Hiermit haben die Grünen mehr für sich und ihre Klientel erreicht, als sie in den zurückliegenden Jahren in der Regierung je zuwege gebracht haben. Voller Chuzpe weist hingegen der Vorsitzende der CDU den Vorwurf eines eklatanten Bruchs seiner Wahlversprechen zurück: Es werde mit ihm keine Erhöhung der Steuern und kein Antasten der Schuldenbremse geben. Tja.
Es ist erst das vierte Mal, dass ein abgewählter Bundestag vor der Konstituierung des neu gewählten zusammenkommt, aber eine Premiere, dass es sich dabei nicht um eine symbolische Sitzung handelt. Das bizarre Auftreten der Union und der sekundierenden Sozialdemokraten ist geeignet, das Vertrauen der Wähler, immerhin der viel beschworene Souverän, in das Funktionieren der Institutionen der Republik zu untergraben. Dazu trägt auch der enorme Zeitdruck bei, mit dem die Verfassungsänderung durchgepeitscht wurde, inklusive Sondersitzungen aller Ausschüsse des Bundestages am Sonntag vor der Abstimmung, ohne eine bei Gesetzentwürfen übliche öffentliche Anhörung externer Sachverständiger. Selbst Abgeordnete der federführenden Christdemokraten klagten hinter vorgehaltener Hand, ihnen bliebe zu wenig Zeit, die Materie zu verstehen und zu einer reifen Entscheidung zu gelangen.
Zur Einordnung: Der – abgelehnte – Haushaltsentwurf 2025 sah an Ausgaben des Bundes eine Gesamtsumme von 488 Mrd. € vor, davon sollten 53 Mrd. € auf die Verteidigung entfallen. Das von der NATO, namentlich den USA, geforderte Ziel an Verteidigungsausgaben sieht Aufwendungen in Höhe von mindestens zwei Prozent der nationalen Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt, BIP) des jeweiligen Mitgliedsstaates vor. Das wären für Deutschland bei einem BIP von 4.305 Mrd. € im Jahr 2024 rund 86 Mrd. €. Dass diese Differenz geschlossen werden soll, mutet nachvollziehbar und dringend an – allerdings gehören die Verteidigungsausgaben dauerhaft in den Kernhaushalt und nicht in einen vom Parlament nicht mehr zu kontrollierenden Schattenhaushalt à la Sondervermögen.
Die Bruttoschulden Deutschlands belaufen sich im Jahr 2023 auf knapp 63 Prozent des BIP, in Frankreich sind es 109 Prozent, in Italien sind es groteske 134 Prozent, in den Niederlanden sind es lediglich 45 Prozent, in den USA sind es jedoch 122 Prozent. Bei wem sich der Bund demnächst verschulden will, ist unklar: Bei Geschäftsbanken, beim Internationalen Währungsfonds, bei der Europäischen Zentralbank, über Anleihen beim eigenen Volk? Das Hasardspiel der Union ist jedenfalls geeignet, das Triple-A-Rating Deutschlands als Schuldner aufs Spiel zu setzen und damit die Kreditaufnahme mittelfristig zu verteuern. Von einer Konsolidierung der Bundesfinanzen durch Sparen war bei der Debatte rund um die Grundgesetzänderung im Plenum keine Rede. Man darf auf den Haushalt für 2025 gespannt sein, den die kommende Koalition sicher gern vor der parlamentarischen Sommerpause unter Dach und Fach hätte.
CDU/CSU und SPD hatten Glück mit ihrem hohen Einsatz, in seiner letzten Sitzung billigte der 20. Deutsche Bundestag mitten in der Fastenzeit das Finanzpaket mit der notwendigen Mehrheit. Nach der zu erwartenden Zustimmung auch des Bundesrates am Freitag steht der Wahl des Unionsvorsitzenden zum zehnten Bundeskanzler in der Woche nach Ostern nichts mehr im Wege, unterstellt, dass die Parteien den auszuhandelnden Koalitionsvertrag nicht noch blockieren. Er wird seine Amtszeit mit einer mächtigen Hypothek beginnen, finanziell wie glaubwürdig.