Cousine

Auch Traditionen haben ein Ende. Seit Jahren schon hat sich Kerstin zwischen den Jahren mit ihrer Cousine Bettina getroffen, um bei einem Gang um den See oder bei einer Tasse Kaffee das letzte Jahr durchzugehen auf seine Höhen und Tiefen. Diese Treffen waren meist die einzige Gelegenheit der beiden Cousinen, sich von Angesicht zu Angesicht zu sehen und zu plaudern, leben sie doch an weit voneinander entfernten Orten. Doch damit ist es jetzt vorbei: Bettina hat einen Freund und damit keine Zeit und Lust mehr, sich mit ihrer weiterhin alleinlebenden Cousine zu treffen.

Kerstin hatte mit diesem Freundschaftsende schon länger gerechnet, ist ihre Cousine doch eine attraktive Frau, neben der sie wie ein hässliches Entlein wirkt. Bettina ist groß, blond und hat ein harmonisches Gesicht mit vollen Wimpern und makellosen Zähnen. Ihre vornehme Kleidung unterstreicht ihren aristokratischen Habitus, neben ihr kam Kerstin sich wie von Humana ausgestattet vor. Doch hat es damit nun sein Bewenden, da mit dem Wegfall des Single-Status für Bettina kein Grund mehr besteht, sich mit Kerstin in der Öffentlichkeit zu zeigen. Die Differenz Beziehung/Allein sorgt unweigerlich für eine Selektion der Kontakte.

Alles andere wäre auch nicht darstellbar, schließlich werden Partnerschaften auf einem Markt gehandelt – und wer keinen Mann hat, liefert schon selbst die Gründe für das Dasein als Restposten. Hässlichkeit, Armut, Krankheit, Unweiblichkeit, um nur die wichtigsten zu nennen. Früher, als sie kollektiv über den fehlenden Gefährten an ihrer Seite sprachen, regte Bettina an, sich doch bei Tinder oder einer anderen Partnerseite umzusehen. Dieser Schritt kam für Kerstin nie in Frage. Hätte sie bei der Anmeldung wahrheitsgemäß ihre Transidentität angegeben, hätte sich ohnehin kein Interessent gemeldet; hätte sie aber diese Behinderung verheimlicht, hätte ein möglicher Kandidat spätestens beim ersten Treffen Reißaus genommen.

Bettina hingegen kommt ganz ohne digitale Matches aus, ihre Schönheit hat beinahe etwas Einschüchterndes. Ihre herzliche, einladende Art macht es den Kavalieren leicht, den ersten Schritt zu tun; nun hat sie passend zu Advent, Weihnachten und Neujahr den Richtigen gefunden und zieht mit ihm ins Glück. Dass da für eine fade Verwandte weder Zeit noch Raum bleiben, findet allseits Zustimmung. Wie schön für sie, dass sie dem Glück wieder eine Chance gibt, warum sich dann noch mit den Non-Valeurs aufhalten, die gut genug waren, die Zeit des Wartens zu verkürzen.

Kerstin stimmt dieser sozialen Aussortierung ohne Worte zu, mag sie sich doch partout nicht vorstellen, was ein Mann an ihr finden könnte. Zwar hört sie öfter, wie gebildet, eloquent, reflektiert und unterhaltsam sie sei, doch sagt ihr niemand, sie sei anziehend, reizvoll, hübsch oder auch nur weiblich. Und da Männer lediglich gut sehen können, ist eine entsprechende Optik das sine qua non. Unterm Strich bleibt Kerstin verdientermaßen isoliert, das Alter gibt das seine dazu. Und es ist nachvollziehbar, dass Bettina weder an ihre eigene Sehnsucht erinnert noch von Kerstins Traurigkeit kontaminiert werden will. Soziale und erotische Misserfolge verstärken die Einsamkeit – c’est ca.

So sind die Feiertage und der Jahreswechsel in geübter Qual des Alleinseins vergangen. Kerstin fügt sich in ihr Schicksal der Unberührbaren und hält sich von Begegnungen fern, wo es nur geht, um nicht an ihr Leid erinnert zu werden. Dass sie ihre Cousine nun verloren hat, ist der Lauf der kalten Welt, die den Erfolg beklatscht und die Vergeblichkeit bestraft. Sie muss sich für 2022 weder etwas vornehmen noch braucht sie sich etwas zu wünschen – so wie ein Rollstuhlfahrer keinen Marathon laufen wird, wird sie keine Liebe finden. Während die Bilder ihrer Cousine langsam verblassen, weiß Kerstin, dass sie nicht enttäuscht werden kann, weil sie schon lange keine Erwartungen mehr hegt. Auch eine Art Vortod.