CV

Die Einladung per Mail erreichte sie über Umwege. Sascha hatte lange gezögert, zum Treffen der alten Jahrgangsstufe zu gehen. Anlass der Feier war der 35. Jahrestag ihres Abiturs. Die ehemaligen Mitschülerinnen und Mitschüler, zu denen sie längst jeden Kontakt verloren hatte, wieder zu sehen, wurde zur Prüfung der besonderen Art. Sie waren alt geworden, die Männer wiesen Glatzen und Bäuche auf, die Frauen getönte Haaransätze und behutsames Facelifting. Weiter trugen etliche Frauen durch eine Heirat einen anderen Hausnamen als noch zu Schulzeiten – Sascha aber sollte die Einzige sein, deren Vorname nicht mehr der war, der seinerzeit auf dem Abiturzeugnis stand. In der Oberstufe hatte sie sich mächtig ins Zeug gelegt, um nicht aus der Rolle zu fallen. Das sollte erst später in der Fremde geschehen.

In der Studentenkneipe in der Altstadt gehörte das Obergeschoss für den Abend der Abiturientia 1984. Falten, Brillen, Bärte und Make-up erschwerten es, die vage vertrauten Gesichter der Oberprima auf Anhieb wiederzuerkennen. Aber hinter dem Antlitz der Gegenwart schimmerte das Gesicht der jungen Erwachsenen durch, zum Ende ihrer Schulzeit und der Zukunft zugewandt. Und es gab einige, denen all die Jahre nichts anzuhaben schienen, wie Dorian Gray hielten sie die Zeit an und ließen dafür ihre Portraits altern. Sascha traf auf eine aufgeräumte Runde, in Stichworten erhielt sie die Informationen zu den bekannt klingenden Namen und fremd wirkenden Personen. Sie sprachen von Ehen, von Kindern, von Urlauben und von Berufen. Sie waren Ärztinnen geworden, Richter, Lehrerinnen, Professoren; sie hatten Unternehmen gegründet und leiteten Abteilungen in Ministerien. Ihre Lebensläufe konnten nicht anders als präsentabel genannt werden, sie hatten die Hoffnungen ihrer Jugend erfüllt.

Auch wenn sie auf eine solche Demütigung vorbereitet war, wurde Sascha von einem Gefühl der Scham getroffen, das ihr den Atem nahm. Sie hörte zufriedenen Menschen zu, die die Zeit nach dem Abitur mit aller Kraft zum Studium, zur Ausbildung, zum Netzwerken und zum Berufseinstieg hatten nutzen können. Obwohl sie nach der Schule am selben Punkt des Rennens starteten, schied sie bereits in der ersten Runde aus. Sie wurde nach dem Abitur und dem Zivildienst überwältigt von ihren bereits seit der Kindheit präsenten Gefühlen des Falschen und des Unpassenden; sie unterdrückte ihr geschlechtliches Empfinden mit Alkohol und Drogen und wechselte die Studienfächer im Semesterrhythmus. In der großen Stadt, in der sie mittlerweile lebte, kam sie nach homosexuellen Experimenten über eine Beratungsstelle sich selbst auf die Spur. Doch sollte es noch Jahre dauern, bis sie ihre Transidentität benennen und hinnehmen konnte.

Als sie sich mit Mitte 20 ärztliche Hilfe holte, stellte sich eine Stabilisierung ihres Zustands ein, endlich wurde sie arbeitsfähig. Während der ersten Östrogengaben und einer zögerlichen Verweiblichung ihres Körpers, ihrer Garderobe und ihres Habitus konnte sie sich auf ihr Studium der (mittlerweile) Politikwissenschaften konzentrieren und das Diplom bequem in der Regelstudienzeit erwerben. Dies wurde bereits auf ihren neuen Namen ausgestellt, den ihr das Amtsgericht nach längerem Verfahren zubilligte. Sie ließ ihre Papiere vom Führerschein über den Personalausweis bis zum Abiturzeugnis umschreiben, selbst in der Geburtsurkunde lautete der Geschlechtseintrag nun „weiblich“. Wie hoch der Preis ihres nachholenden Geschlechtserwerbs sein sollte, war ihr im Vollzug nicht bewusst.

Voller Euphorie ging sie davon aus, dass ihre seelische Identität ausreichend sei, auch von anderen Menschen als Frau anerkannt zu werden. Ihre Schwierigkeiten, nach dem Verlassen der schützenden Universität einen Job zu finden, belehrten sie eines Schlechteren. Ihr Curriculum Vitae (CV) wies blanke Stellen auf, die sich angesichts einer akademischen Ausbildung nicht erklären ließen. Während ihre Kolleginnen und Kollegen Auslandssemester absolviert hatten, war sie mit den gerichtlichen Auseinandersetzungen um ihre Vornamensänderung beschäftigt und wurde zu Verhören durch Psychologen genötigt. Wo ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen über Praktika Kontakte knüpften und zunehmend protegiert wurden, musste sie ein weiteres Mal Laufen und Sprechen lernen, wie nach einer schweren Erkrankung, die bleibende körperliche Behinderungen nach sich zog.

Sascha blickte mit einer Mischung aus Neid und Trauer auf ihre Mitschülerinnen und Mitschüler vom Gymnasium. Was hätte auch aus ihr werden können, wäre sie nicht durch das Schicksal ihrer Transidentität gelähmt worden. Sie sah sich in ihren Träumen Jura studieren oder Architektur. Den Numerus Clausus für diese Fächer hätte sie problemlos geschafft, ihre Leistungen in der Oberstufe waren überdurchschnittlich gut. Aber es fehlte ihr an Gesundheit, um sich ganz der beruflichen und familiären Entwicklung hinzugeben. Seltsamerweise war ihr in ihren Träumen das Geschlecht egal; ob nun als Anwältin oder als Anwalt, als Architektin oder als Architekt zu leben und zu arbeiten, spielte keine Rolle, solange nur die belastende Transidentität ihr nicht im Wege stand.

Mit einem solchen Bruch im Lebenslauf war an eine berufliche Karriere nicht zu denken. So hangelte sie sich vom Praktikum zum Aushilfsjob, von freier Mitarbeit zum befristeten Projekt. Lange Jahre lebte sie in prekären finanziellen Verhältnissen und litt unter Depressionen, war weit unter ihrer nominellen Qualifikation beschäftigt, während ihr die Jahre durch die Finger rannen. Als offen sichtliche Transfrau war sie stets das Schlusslicht bei Bewerbungen, immer waren andere jünger, weiter gereist, beruflich erfolgreicher, konkreter qualifiziert, besser empfohlen oder einfach weiblicher. Sie musste erst 50 Jahre alt werden, um zum ersten Mal im Leben einen gut bezahlten Job zu finden, als sie schon nicht mehr daran glaubte. Und jetzt erzählte ihr beim Abiturtreffen eine Mutter zweier Kinder, dass sie im kommenden Jahr mit Mitte 50 in Rente gehen werde.

Die Angehörigen ihrer Jahrgangsstufe wussten nicht, wie segensreich die Normalität war, in der sie leben durften. Sie hatten Familie, Kinder, angesehene Berufe, ein bürgerliches Leben in gesicherten Verhältnissen mit hohem sozialem und ökonomischem Kapital. Angesichts dieser Muster-CV spürte Sascha eine existentielle Einsamkeit, sie fiel aus allen professionellen und zwischenmenschlichen Kategorien. Die Frage nach einem Partner wurde ihr den ganzen Abend über nicht gestellt, als sei es ausgemacht, dass sie sowieso niemanden habe. In ihrem Alleinsein hatte sie sich im Alltag passabel eingerichtet, aber im Licht der familiären Triumphe ihrer Abiturientia konnte sie nicht umhin, sich als Außenseiterin zu fühlen. Sie war mit einem Aussatz gezeichnet, von denen die anderen nicht einmal wussten, dass es ihn gab. Diese orphan disease hatte keinerlei Wert, ihre Erfahrungen interessierten nicht.

Sascha haderte mit ihrem CV, ob nun bei Bewerbungen oder privater Biographiearbeit. Im Kreise ihrer alten Jahrgangsstufe quälte sie das süße Gift des Möglichen. Hätte sie ein schwules Coming-out gehabt, hätte sie sich in den 1980er Jahren womöglich mit HIV infiziert und wäre an Aids verstorben. Sascha blickte auf die schiere Zahl der Jahre und staunte, dass sie noch atmete. Die Statistik sagte ihr, dass sie schon zwei Drittel ihrer mutmaßlichen Lebenszeit hinter sich hatte. Der Rest wird nicht besser, doch ist sie es gewohnt zu kämpfen. Sie kann mit dem Rad nach Hause fahren, trotz ihrer schmerzenden Knie. Ihre Hände sind leidlich gesund, ihr Blutdruck und ihr Gewicht sind erfreulich niedrig, ihre Leber und ihre Nieren zeigen keinerlei Schädigung. Sie ist eine Überlebende, mehr ist für sie nicht drin. Traurig nur, dass ihr niemand zuhört.