1994 war ein denkwürdiges Jahr, nicht zuletzt weil ich meine erste Einladung zum Turnier in Linares erhielt, dem Schach-Wimbledon, wie es zur damaligen Zeit hieß. Man kann sich meine Euphorie vorstellen, in einem Turnier mit den besten Spielern der Welt zu streiten, darunter Kasparow und Karpow! – Judit Polgar
Ein einfacher Spaziergang vor fast dreizehn Jahren sollte unvermutet eine neue Tür in ihrem Leben aufstoßen. Sascha schlenderte an einem tristen Winternachmittag durch ihren Kiez, ohne ein konkretes Ziel zu haben, als sie plötzlich von der Beschriftung über einer Ladentür angezogen wurde. Einfach „schach“ stand da, in Minuskeln und magnetisch. Im rechten Winkel zur Hauswand hing eine Leuchtreklame names „Lasker’s“ vor einem Muster aus Quadraten, grammatikalisch bedenklich, aber genauso verführerisch. Sascha trat erwartungsvoll näher und stellte fest, ein Fachgeschäft für Schachbedarf in ihrer Nachbarschaft entdeckt zu haben. Sie öffnete die Tür und enpfand beim Betreten des kleinen Ladens die Wiedersehensfreude beim Besuch einer geliebten, aber lange vermissten Gegend, samt der vergessen geglaubten Geräusche, Gerüche und Vibrationen.
Die linke Längswand des Ladenlokals wurde eingenommen vom einem deckenhohen Regal mit zahllosen Schachbüchern, sortiert nach Eröffnungen, Mittelspielstrategien und Endspielen, dazu Partiesammlungen einzelner Großmeister und Biographien. Auch einzelne Periodika auf Deutsch, Englisch und Russisch waren vorrätig. Im rechten Teil des Geschäfts waren Schachbretter aller Art und Größe aufgebaut, aus Holz, aus Metall und aus Plastik, mit farblich und proportional dazu passenden Figuren. Ein Sortiment an Uhren in Turnierqualität, darunter die berühmte analoge Ruhla und das Modell DGT als digitaler Standard, komplettierte die Garnitur. Es war ihr, als hörte sie eine lange nicht mehr gesprochene Fremdsprache, deren Vokabular tief im Langzeitgedächtnis schlummerte und nur darauf wartete, bei passender Gelegenheit aktualisiert zu werden. Den Zweizüger auf einem Demonstrationsbrett im Schaufenster löste sie nach längerem Grübeln.
Saschas früheste schachliche Erinnerungen reichen zurück in ihre Kindheit. Es gibt ein Foto, das sie im Alter von fünf oder sechs Jahren beim Spiel mit ihrer jüngeren Schwester zeigt. Das Schachbrett hatte der Vater von Hand gefertigt und seiner künftigen Frau zum Geschenk gemacht, die Figuren wurden zugekauft. Ihr Vater hatte ihr dann auch die Regeln des Spiels beigebracht und ab und an mit ihr gespielt; als er dann gegen Sascha zu verlieren begann, hörten die Partien schlagartig auf. Die Schwester zeigte kein anhaltendes Interesse am Spiel, sodass Sascha allein am Brett und vor allem in der Phantasie zu spielen, zu rechnen und zu kombinieren begann. Es war dann die Mutter, die mit Sascha zu einem Schachgrundkurs in der Volkshochschule ging und zu Weihnachten und zum Geburtstag die Schachbücher besorgte, die sich ihr älteres Kind wünschte.
Etwa mit elf Jahren trat Sascha dann dem lokalen Schachverein bei, der auch über eine betreute Jugendabteilung verfügte. Hier waren die Jungen nahezu unter sich, lediglich ein Mädchen saß verloren inmitten der verpickelten Buben, während Sascha sich wie ein Fremdkörper vorkam. Doch war das Schach etwas, was ihm gefiel und ihn begeisterte, ganz anders als die furchtbaren Monate im Fußballverein, von dem der Vater glaubte, seinem Kind damit etwas Gutes zu tun. Sascha liebte die matt glänzenden Figuren in der Grundstellung, ernst und zu allem bereit, nur auf Geheiß des Spielers in Aktion tretend. Es muss das Schweigen der Figuren gewesen sein, das Sascha in diesen frühen Jahren faszinierte. Hier musste er nicht reden, sondern konnte über die schwarzen und weißen Figuren auf dem Brett kommunizieren, vergleichbar einer Pianistin über den Tasten des Klaviers. Es sollte eine Verlängerung der geschlechtslosen Idylle der Kindheit werden.
Als die Pubertät mit aller Gewalt zuschlug, wusste Sascha nicht ein noch aus. Sein Körper veränderte sich in einem Maße und in eine Richtung, die ihn traurig, wütend, ratlos und beschämt machte. Er hielt es für einen entsetzlichen Irrtum Gottes, dass in seinem Leib das genetische Programm unbarmherzig Richtung Mann ablief, während Sascha doch von klein auf davon überzeugt war, ein Mädchen zu sein. Die Freude am Schach überlebte den geschlechtlichen Schock, den Sascha erlitt, nicht; mit 15 oder 16 quittierte er die Mitgliedschaft im Verein, ohne je über einen soliden Durchschnitt hinaus gekommen zu sein, hörte auf zu spielen, ohne seinen Kameraden und Trainern über die wahren Gründe Auskunft geben zu können. Instinktiv wandte Sascha sich den Büchern, der Literatur zu, versenkte sich in Albert Camus und Samuel Beckett, Jean Paul Sartre und Simone de Beauvoir, Marcel Proust und Lars Gustafsson und hoffte, auf den stummen Papierseiten mit den arrangierten Buchstaben vergessen zu können, wozu die Biologie ihn zwang.
Als Sascha dann mit 24 das Coming-out als Transfrau hatte, Östrogene zu nehmen begann, sich die Haare wachsen ließ und die Änderung des Vornamens beantragte, war das Schach aus ihrem Leben verschwunden. Sie bekam noch aus den Augenwinkeln mit, dass Garri Kasparow seinen WM-Titel ein weiteres Mal gegen Anatoli Karpow verteidigte, das Gespenstermatch zwischen Bobby Fischer und Boris Spasski 1992 aber registrierte sie bereits nicht mehr. Sie konnte es sich partout nicht vorstellen, als werdende Transfrau einen Platz in der maskulin gestalteten Welt des Schachs zu finden, ungeachtet des Vergnügens, das sie am schieren Spiel empfunden hatte. Sie musste lernen, die Welt mit den Augen einer Frau zu betrachten, sich als Frau in dieser zu bewegen, ohne Schaden zu nehmen. Ihre Garderobe veränderte sich ebenso wie ihr Wortschatz und ihre Gesten, auch ihre sozialen und geistigen Interessen erfuhren eine Neuaufstellung. Das Schach schien ihr ein Echo einer untergegangenen Welt zu sein.
In den folgenden Jahren spielte Sascha ab und an eine freie Partie, dabei von den Erfahrungen des Vereinsschachs profitierend, auch wenn die Spielstärke eher stagnierte. Sie fasste nach dem erfolgreichen Ende der Universitätszeit Schritt für Schritt Fuß in der Berufswelt und wurde zunehmend sicherer in der weiblichen Rolle, wozu auch zutiefst befriedigende sexuelle Erfahrungen beitrugen. Es schien ihr ein selbstverständlicher Komment zu sein, auf dem Weg zur Dame in der realen Welt die Dame auf dem Schachbrett zurückzulassen; schließlich sind Aktivitäten, Positionen und Vorlieben nicht selten vergeschlechtlicht, und Schach kam Sascha als eine überholte Männerangelegenheit vor, die sie meinte meiden zu müssen, um glaubwürdig eine Frau darstellen zu können. Zudem nahmen andere Dinge einfach mehr Zeit in ihrem Leben ein, sodass das Schach peu à peu im Regal verstaubte.
Bis zu jenem Winterspaziergang vor bald dreizehn Jahren. Im Geschäft „Lasker’s“ konnte sie mit den Termini Sizilianisch, Französisch, Damengambit, Curacao, Reykjavik, Meraner Variante, Mattangriff und Freibauer umgehend etwas anfangen. Sie staunte ob der vielen Bücher zum Thema, die sie unweigerlich in ihre verworrene Kindheit zurückholten; mit Wehmut dachte sie an ihre kleine Schachbibliothek aus jenen Tagen, die mehreren Umzügen zum Opfer gefallen war. Der freundliche Ladenbesitzer ließ sie in Ruhe stöbern, nach einer Zeit des Blätterns und Suchens kaufte sie den Klassiker „Mein System“ von Aron Nimzowitsch, mit fast 100 Jahren sicher kein gültiges Lehrbuch mehr, aber historisch wertvoll. Als sie ein weiteres Mal das Geschäft betrat, fragte ein ebenfalls anwesender Kunde nassforsch, ob sie ein Schachbuch für ihren Sohn suche. Peinlich berührt sekundierte der Besitzer, dass die Kundin selbst Schach spiele und sicher ein weiteres Buch für ihre Sammlung suche.
Anhand dieser Situation wurde Sascha darauf gestoßen, dass die Welt des Schachs nach wie vor eine maskuline ist, wo Frauen allen Beteuerungen zum Trotz am Rand bleiben. Schnell wurde Sascha auf den Paradigmenwechsel aufmerksam, den die Computer im Schach zu verantworten hatten. Der WM-Kampf zwischen Viswanathan Anand und Veselin Topalow in Sofia 2010 war der erste, den sie in Echtzeit im Internet verfolgte. Sie entdeckte verschiedene Plattformen zum Spielen und fand ihre alte schachliche Form wie in Bernstein konserviert, die Jahrzehnte heil überstanden, Patzer und Finessen inklusive. Mit Behagen registrierte sie, dass deutsche Begriffe wie Zeitnot, Zugzwang und Zwischenzug in die internationale Publizistik zur Materie Einzug gehalten hatten und global verstanden wurden. Sie verfolgte Turniere, verstand die enorme Bedeutung der Software zur Vorbereitung und zur Analyse, ließ ihre Partien von Stockfish bewerten und kaufte sich weitere Schachbücher.
Und es kam der Tag, an dem sie zum freien Training bei einem Schachverein in der Nachbarschaft erschien. Es war kaum anders als vor 35 Jahren: Jungen aller Altersstufen saßen an den Brettern und dachten intensiv nach, ihr Auftauchen wurde mit einer Mischung aus Neugier und Skepsis bemerkt, als hätte sie einen Junggesellenabschied gestört. Doch entwickelten die Jungen, namentlich die älteren unter ihnen, vor ihr einen Respekt, als ihnen aufging, dass sie sehr wohl zwischen 1. e4 und 1. d4 zu unterscheiden wusste, dabei korrekt zu rochieren und en passant zu schlagen vermochte. Beim Blitzen fehlte ihr die Routine, sodass sie schneller als der Gegner den Überblick verlor, außerdem entbehrte sie eines verlässlichen Repertoires an Eröffnungen, um spielbare Positionen im Mittelspiel zu erhalten. Aber daran ließ sich ja arbeiten, sie erwarb in der Folge Titel über Strategie und Taktik sowie über elementare Endspiele.
Wenn ein Bauer auf die Grundreihe des Gegners kommt, darf er in eine Figur der Wahl verwandelt werden, mit Ausnahme des Königs. In aller Regel wählen die Spieler in diesem Fall die Dame; aus der schwächsten Figur wird binnen eines Zuges die stärkste, nebenbei wechselt diese auch das Geschlecht. Mit dem Auftreten einer neuen Dame auf dem Brett erfährt die Partie häufig eine entscheidende Wende. So kam es auch Sascha vor: Ihr nachholendes Frauwerden ließ sich ohne Übertreibung als die zentrale Passage ihres Lebens beschreiben, die alles Kommende unter ein neues Vorzeichen stellte und das Gewesene in ein anderes Licht tauchte. Das Schachspiel erscheint ihr nun weniger maskulin als in ihren Mädchenjahren. Als erwachsene Frau darf sie sich jetzt den Genuss einer Schachpartie gönnen, ob im Internet, in einem Fachmagazin oder am Brett anlässlich eines Turniers. Etliche ihrer Partner könnten ihre Söhne sein, erste auch ihre Enkel. Schmunzeln muss sie, wenn sie einem Mann ihres Alters gegenübersitzt und sich ausmalt, dass sie so hätte werden sollen. Wie gut, dass sie noch rechtzeitig abgebogen ist, wenn auch mit sichtbaren Narben.
Im Jahr 2015, ein Jahr nach der Annexion der Krim durch Russland, stellte Garri Kasparow sein neues Buch vor, in dem er vor dem russischen Präsidenten Wladimir Putin warnte und den Westen zu mehr Härte gegenüber Moskau aufrief. Der ehemalige Schachweltmeister, ein Generationenkollege Saschas, hatte sich nach seiner Profikarriere in der russischen Innenpolitik engagiert und lebte mittlerweile in den USA. Aufgeregt reihte sich Sascha nach der Buchpräsentation in die Schlange jener ein, die sich ihr Exemplar von Kasparow signieren lassen wollten. Sie legte ihm ein Buch aus seiner Reihe über seine großen Vorkämpfer auf dem WM-Thron vor und bedankte sich für seine unsterbliche Partie gegen Veselin Topalow 1999. Als Kasparow daran erinnert lächelte, freute sie sich inniglich. Sie hatte ihr Schach wiedergefunden, bei der Revanche. Es soll ihr ein getreuer Gefährte im Alter werden, das Nachdenken über Diagramm und Notation wird ihren Geist frisch erhalten. Für die Stabilität ihrer Leibesmitte macht sie Rumpfbeugen und Unterarmstütze, die Ausdauer trainiert sie mit Radfahren und Schwimmen. Auch diese Übungen dienen ihrem Schach.