Danzig

  Als Tulla geboren wurde, lag der Diskontsatz der Bank von Danzig unverändert bei fünfeinhalb Prozent. Der Danziger Roggenrentenbrief notierte pro Zentner Roggen neun Gulden sechzig: Geld – Günter Grass, Hundejahre

Für die Zugfahrt vom Reichshauptslum nach Gdansk Glowny setzt der Fahrplan knapp sechs Stunden an. Hinter Frankfurt jenseits der Oder wird es noch ländlicher als in Brandenburg, kleine Waldstücke wechseln sich mit Feldern ab, hin und wieder wächst ein Dorf aus dem kahlen Grün. Die Bahn fährt durch eine liebliche Wasserlandschaft, die Flüsse treten über die Ufer, die Erde ist morastig, auch auf Wirtschaftswegen sammeln sich tiefe Pfützen. In Posen steigen viele Leute zu, schlagartig füllt sich der Waggon auch der 1. Klasse, eine Wochenendstimmung mit Gesang greift um sich. Es ist schon lange dunkel, als der Zug im alten Hauptbahnhof Danzigs einfährt. Kerstin nimmt ihr Gepäck, geht durch die Unterführung und steht schon vor dem Hotel ihrer Lieblingskette aus Schweden, wo sie ihr Zimmer gebucht hat. Ein Gefühl des Ankommens in vertrauter Umgebung; die Rechnung für ihren Aufenthalt begleicht sie bar mit würdevoll antiken Zloty-Scheinen. Das WLAN im Haus läuft stabil.

Danzig, nahe der Weichselmündung an der Baltischen See gelegen, ist eine Perle voller Tradition und Stolz. Der Deutsche Orden ging von hier aus auf Kolonialisierung der Nehrung in Richtung Königsberg, im ausgehenden Mittelalter wurde Danzig Mitglied der Hanse, wetteiferte erfolgreich mit Lübeck und Amsterdam um den Fernhandel per Schiff und wurde reich. Nach dem I. Weltkrieg blieb die Stadt deutsch, verlor aber ihr Hinterland an die neu entstandene polnische Republik. Die nach der alliierten Bombardierung 1945 fast komplett zerstörte Rechtstadt wurde nach einem Beschluss der polnischen Regierung historisierend wieder aufgebaut, auf der Grundlage alter Grundrisse, Fassadengestaltung und Straßenpläne. Die Giebelhäuser der Patrizier in der zentralen Langgasse erinnern nicht von ungefähr an die Niederlande; viele katholische Kaufleute, Handwerker und Maler flohen vor der Reformation in den Osten, Danzig wehrte die Versuche der Evangelisierung des Ostseeraumes erfolgreich ab. Das Erbe der niederländischen Künstler und Architekten prägt die Innenstadt Danzigs bis heute.

Ganz in der Nähe ihres Hotels steht ein Denkmal für den Astronomen Jan Hevelius, der als erster Mensch den Mond beschrieb, an der Hauswand gegenüber prangt eine Karte des Sternenhimmels. Über Kopfsteinpflaster durch enge Gassen, vorbei an niedrigen Häusern in Pastelltönen mit ihren charakteristischen Beischlägen, geht es ins alte Herz der Stadt. Völlig hingerissen ist Kerstin von der Marienkirche, der alten wie heutigen Bistumskirche der Stadt. Mit ihrem Bau wurde vor über fünfhundert Jahren begonnen, immer wieder wurde die Kirche durch Chöre, Säulen, Kapellen und Türme erweitert, Schäden durch Feuer wurden ausgebessert. Die Marienkirche ist die größte Backsteinkirche der Welt und kann sich vom Volumen mit dem Kölner Dom und dem Ulmer Münster messen. Von außen dominiert der rostrote Ziegel des Nordens, wie er auch in Bremen, Rostock und Kopenhagen zu finden ist, innen ist Weiß die vorherrschende Farbe, zurückgehend auf die Übermalungen während der Reformation. In einer Seitenkapelle erinnert eine Pietà an die Schrecken des II. Weltkriegs, in einer Nische vis-à-vis des Altares hat Pawel Adamowicz sein Grab – der langjährige Stadtpräsident Danzigs wurde im Januar 2019 bei einem Messerattentat getötet.

Abends nimmt Kerstin an der Heiligen Messe teil, von ihrem Platz im Gestühl hat sie die prächtige astronomische Uhr inmitten des Tierkreises im Blick. Dass sie vom Polnischen während des Sanctus, der Predigt, des Lobpreises, des Hochgebets und des Agnus Dei kaum etwas versteht, ist nicht weiter schlimm – nicht umsonst verläuft eine katholische Messe überall auf der Welt nach gleichem Muster, ihre Liturgie ist allumfassend, sodass Kerstin mühelos die deutschen Formeln mitsprechen kann. Als sie die Kommunion empfängt, wird sie von einem Schauer der Dankbarkeit erfasst; zu lange war sie daheim wegen des rigiden Corona-Regimes dem Gottesdienst ferngeblieben. Hier in Danzig will niemand von ihr irgendein Zertifikat sehen, weder im Hotel noch in der Kirche, im Museum nicht und nicht in der Tram, nicht im Geschäft und nicht im Café. Im Bahnhofsgebäude patrouillieren selbst Polizisten bargesichtig, hier herrscht keine deutsche Hysterie, sondern eine freiheitliche Offenheit. Beim Verlassen der Kirche geht ihr Blick nach oben zur prächtigen Barockorgel, während ihre Füße über abgewetzte Steinplatten schreiten, auf denen nur noch Reste der fein ziselierten Inschriften auszumachen sind.

Auf einen Gang in die Zeitgeschichte, die mit ihrer Autobiografie verwoben ist, macht sich Kerstin beim Besuch des European Solidarity Centre, in Laufweite des Bahnhofes gelegen. Dieses Museum, ein Bau des Danziger Büros Fort, auf dem Gelände der ehemaligen Lenin-Werft gelegen, rekonstruiert die Geschichte der unabhängigen polnischen Gewerkschaft Solidarnosc und kontextualisiert diese in den schrittweisen Verfall des kommunistischen Blocks während der 1980er Jahre. Das 2014 für das Publikum geöffnete Museum, ein wuchtiger freistehender Klotz, hat eine Hülle aus korrodierendem Stahl, was als Referenz an die Werft und die dort gebauten Schiffe zu werten sein mag; das Interieur hingegen ist von lichter Höhe sowie heller Weite gezeichnet und üppiger Bepflanzung über die Stockwerke hinweg. Kerstin erinnert sich, dass sie 1981 in der Schule einen Sticker mit dem rot-weißen Logo der Solidarnosc am Pullover trug. Als sie einen Film über die Verhandlungen der Streikenden und der Staatsführung sieht und dabei den Arbeiterführer Lech Walesa erkennt, steigen ihr Tränen der Rührung in die Augen.

Die Dauerausstellung arbeitet mit sehr plastischen Exponaten. So hängen Helme und Kittel der Werftarbeiter von der Decke eines Raumes herab, unter Glas liegt ein Aschenbecher mit zahllosen Kippen von den Verhandlungen, ein kleiner Werksbus, von dessen Dach Walesa zu seinen Kollegen sprach, steht im Raum, ebenso wie ein demoliertes Gittertor, verbogen bei Krawallen mit der Polizei. Zeitungen mit der Ankündigung, dass Lech Walesa 1983 den Friedensnobelpreis bekommt, sind ebenso ausgestellt wie die 21 Forderungen der Streikenden vom August 1980, aufgeschrieben auf Sperrholzplatten. Nicht zuletzt läuft auf einem Monitor die Fernsehansprache des Generals Wojciech Jaruzelski, mit der er 1981 die Verhängung des Kriegsrechts über Polen ausspricht, auch um eine Invasion sowjetischer Panzer zu verhindern; hiermit ging ein Verbot der Gewerkschaft einher, ihre führenden Köpfe wurden verhaftet. Der General sollte der letzte Präsident des kommunistischen Regimes werden: 1989 wurde der Solidarnosc-Funktionär Tadeusz Mazowiecki zum Ministerpräsidenten gewählt, im Jahr darauf wurde Lech Walesa Staatspräsident.

Mit den Streiks auf der Lenin-Werft 1980/81 begann die Erosion des kommunistischen Blockes, so eine verbreitete Lesart unter Historikern. Die frappierende Koinzidenz zum Ende des Jahrzehnts in ganz Osteuropa lässt in der Tat Kausalitäten plausibel erscheinen: Die Menschenmassen, die Papst Johannes Paul II. alias Karol Wojtyla bei seinen Pilgerbesuchen in der Heimat 1983 und 1987 zujubeln; die Politik von Perestroika und Glasnost unter Mikhail Gorbatschow in der UdSSR ab 1985; die Öffnung der Grenze zwischen Ungarn und Österreich im Juni 1989; die „Baltischer Weg“ genannte Menschenkette über 600 Kilometer von Tallinn über Riga bis Vilnius im August 1989; der Fall der Berliner Mauer im November; die Hinrichtung des rumänischen Diktators Nicolae Ceausescu an Weihnachten 1989; Vaclav Havel als Präsident in der Prager Burg zwei Tage vor Silvester. Am Ende war die Sehnsucht nach Freiheit größer als die Angst vor der Geheimpolizei. 1991 implodierte schließlich die Sowjetunion, 15 neue Republiken entstanden, der Zwang des Kollektives und des Planes landete auf der Müllhalde der Geschichte.

Sich als Zeitgenossin fühlend, macht Kerstin sich am nächsten Tag, an dem sich der heftige Sturm gottlob gelegt hat, mit Bildern aus der Ausstellung im Kopf auf zum Strand nach Jelitkovo. Unvermutet bekommt sie bei der Fahrt mit der Tram an den Nordostrand der Stadt eine Fahrt durch Zaspa spendiert, eine riesige Plattenbausteppe in gebührender Tristesse. Von der Endhaltestelle der Tram geht es durch einen Park direkt an den Strand, der sich über gut drei Kilometer nach Zoppot zieht, dem mondänen Seebad vor der Stadt, vor gut 200 Jahren für den Adel angelegt und heute ein beliebtes Naherholungsziel der Danziger. Der Strand ist breit, fein und sauber, viele Menschen sind unterwegs, einige Unentwegte springen auf ein kurzes Bad in das ruhige kalte Meer. Die Kinder suchen im Sand nach Bernstein, dem Gold der Ostsee, das in der Stadt an allen Ecken als Schmuck angeboten wird. Kerstin atmet die frische Seeluft ein und lässt die Augen den Horizont absuchen, an dem sich kein einziges Kreuzfahrtschiff findet; diese Art des Massentourismus hat Danzig bislang verschont. Auf dem Weg nach Zoppot begegnet Kerstin die gleiche Fröhlichkeit wie auch in der Stadt – kein Mensch schert sich um Abstand oder Impfstatus der anderen, die jungen Frauen sind angezogen wie beim Gang ins Theater, festlich geschminkt und im Rock, auch auf hohen Hacken. An der über 500 Meter langen Mole von Zoppot grüßt majestätisch das alte Grand Hotel.

Abends im Logis schaut sie dann die polnischen Nachrichten, die sich erkennbar um die Ukraine und den drohenden Krieg drehen. Das Polen der Gegenwart ist längst in Europa angekommen, die Wirtschaft wächst beharrlich, der Lebensstandard ist vom deutschen nicht mehr weit entfernt; allein die Rechtsprechung nimmt unter der Regierung der PiS-Partei von Jaroslaw Kaczynski, einem ehemaligen Solidarnosc-Aktivisten, eine bedrohliche Entwicklung Richtung Autoritarismus. Als Kerstin am nächsten Morgen wieder im Zug sitzt, zählt sie innerlich auf, was sie alles nicht gesehen hat: den Ortsteil Langfuhr, wo der Literaturnobelpreisträger Günter Grass aufgewachsen ist; die Westerplatte, mit deren Beschuss im September 1939 der II. Weltkrieg begann; die Marienburg, etwa 40 Kilometer südöstlich gelegen, die größte Burganlage des Deutschen Ordens im Baltikum; die Baltische Philharmonie auf einer Insel in der Motlawa mit einem Konzert mit Werken von Frederic Chopin oder Krzysztof Penderecki; Gdynia, gleich hinter Zoppot gelegen, eine in den 1920er Jahren im Stils des Bauhauses angelegte Idealstadt, die mit ihrem Hafen der Freien Stadt Danzig Konkurrenz machen sollte. Kerstin wird wiederkommen, womöglich schon im Sommer, mit dem Fahrrad, um von Danzig aus weiter nach Masuren zu fahren, ins alte Ostpreußen.