Eine Frau ist zu allem bereit, wenn der Mann ihr das Gefühl gibt, sie wirklich zu wollen. – Lars Gustafsson
Immerhin, Kerstin hatte es versucht. Sie hatte sich auf einer Webseite angemeldet, um dort Männer für ein Treffen und langfristig für eine Beziehung kennen zu lernen. Ein Vorgehen, das für die jungen Leute gang und gäbe war und für die meisten normgeborenen ohnehin. Für Transfrauen, so Kerstins Befürchtung, war auch das Online-Dating mit den gewohnten Beleidigungen, Aggressionen und Gefahren verbunden; daher entschied sie sich für eine Seite speziell für Transfrauen. Doch auch die entpuppte sich als Rose voller Dornen, sodass sie nach einem halben Jahr entnervt ihr Konto kündigte, weiterhin unbemannt.
Voller Elan und etwas aufgeregt, hatte sich Kerstin im Mai auf der Seite angemeldet – corriger la fortune. Die Seite warb damit, von einem echten Transpaar – sie trans, er cis – betrieben zu werden und sich um echte Kontakte zwischen Männern und Transfrauen zu bemühen, abseits der Gewalt und der Demütigungen der Welt der Fetische und der Pornographie. Alle Profile seien, so die Macher, rigoros geprüft; hochgeladene Fotos müssten bestimmten Regeln entsprechen; jeder Versuch, Geld zu erheischen, werde mit dem sofortigen Bannen bestraft. Das klang nicht schlecht, hinzu kam, dass die volle Nutzung der Seite für Transfrauen gratis war, während Männer pro Monat 39,- US Dollar zahlen mussten. Mit dieser Politik wollte man Spinner, Hasardeure und Kriminelle fernhalten.
Kerstin füllte den Fragebogen zu ihrem Profil vollständig und wahrheitsgemäß aus, beschrieb sich und ihre Vorlieben und Wünsche konkret und ausführlich im Freitext. Lange haderte sie mit der Auswahl eines Bildes, einfach weil sie sich auf Fotos durchweg verabscheute und diese vermied, wo immer es ging. Schließlich entschied sie sich für ein Portrait knapp bis zur mückenstichgroßen Brust, das vor Jahren ein Profi gemacht hatte: frontal, leicht gedreht im Profil zur Schokoladenseite, die langen Haare offen, auf den geschlossenen Lippen ein feines Lächeln, Augen und Mund dezent geschminkt. Seriös und hinnehmbar, so kam sie sich vor neutralem Hintergrund vor. Auch wenn es sich um eine arrangierte Situation im Studio handelte, empfand sie den Ausdruck nicht als gestellt. Im Fragebogen stufte sie ihr Aussehen als „durchschnittlich“ ein.
Es dauerte nicht lange und erste Nachrichten landeten in ihrem Postfach. Die Politik der Seite sah vor, dass die Nutzer selbst aktiv werden mussten. Ihnen wurden keine algorithmengenerierten Vorschläge gemacht, die laut den gemachten Angaben zum Alter, zum Wohnort, zum Beruf, zu Ess- und Trinkgewohnheiten oder den erotischen Wünschen sowie der Reisebereitschaft passen könnten; vielmehr mussten die Nutzer in den Profilen der anderen stöbern und suchen, ob er oder sie ein geeigneter Kontakt sein könnte. Immerhin konnte man die Datei der Männer nach verschiedenen Kriterien selektieren und somit den Kreis der potentiell infrage Kommenden sinnvoll eingrenzen. Das war ein nützliches Element, waren doch nach Angaben der Betreiber, die ihren Firmensitz in Thailand hatten, rund 125.000 Menschen auf der Seite registriert. Dabei konnten die Frauen nur die Männer sehen und vice versa.
Früh schwante Kerstin, dass die Internationalität der Seite auch ihr größtes Manko war. Sie hatte den Eindruck, dass die Männer buchstäblich auf der ganzen Welt verteilt saßen, von Skandinavien, den Niederlanden und Frankreich über die USA und Kanada bis nach Südafrika, Indien, Japan und Australien. Selbst aus Pakistan und den VAR waren Interessenten zugeschaltet, das Gros allerdings kam aus Westeuropa und Nordamerika, also jenen Weltgegenden mit einer halbwegs liberalen Gesetzgebung hinsichtlich Transidentität. Die Frauen hingegen, so schrieben es ihr mehrere Männer unabhängig voneinander, lebten fast ausschließlich in Südostasien, in Thailand, Malaysia, Indonesien und auf den Philippinen. Sie träumten, so die Einschätzung, durchweg davon, von einem reichen Mann als Braut in den Westen geholt zu werden, inklusive Finanzierung des Visums, des Fluges und der Wohnung.
Kerstin genoss die Chats mit den unbekannten Kavalieren. Manche gaben sich gepflegt, vor allem jene ihres Alters; andere, die ihre Söhne hätten sein können, fragten sie unverblümt nach ihren Phantasien im Bett. Ausnahmslos alle priesen sie ob ihrer Schönheit und überschütteten sie mit Komplimenten für ihr Aussehen, das sie nur von einem Foto kannten. Sie wunderte sich, weil sie ein derartiges Charmieren im Alltag überhaupt nicht gewohnt war. Und dann dämmerte es ihr: Natürlich sahen die Männer nicht ihren realen Körper mit seiner Giraffenlänge in Relation zu anderen, sie sahen nur ein Gesicht, das sich zur Projektion all ihrer Wünsche bestens eignete. Sie hörten ihre tiefe Stimme nicht, sahen ihre senkrechte Silhouette ohne Busen, Taille und Hüften ebenso wenig wie ihre großen Hände und ihre riesigen Füße. Das, was Kerstin in ihrem Profil über sich geschrieben hatte, lasen sie erst gar nicht. Nach ihrem Beruf wurde sie ebenso wenig gefragt wie nach ihren sportlichen Aktivitäten, ihren Lieblingsbüchern oder ihrem Geschmack in Fragen der Architektur. Die Männer suchten keine unabhängige, starke, intellektuelle Transfrau, sondern ein Häschen für Bett und Küche.
Sie schrieb mit Männern aus Dänemark, Schweden, Großbritannien, den Niederlanden, Mexiko, Kanada, Australien und Frankreich. Sie schulte ihr Englisch und Französisch und ließ sich von den Galanen den Hof machen. Zu ihrer Verblüffung gab es kaum Männer aus Deutschland auf der Plattform, geschweige denn aus ihrer Stadt. So tauchte bei allem Spaß am Schreiben die Frage auf, wie denn nun ein reales Treffen zum Kennenlernen zu bewerkstelligen sei. Es war einleuchtend, dass sie nicht mal eben tausende von Kilometern über den Atlantik würde fliegen können, nur um ihre Internetbekanntschaft in einem Café zu einem Mokka zu treffen. Umgekehrt erwartete sie ein solches Investment auch nicht von ihren Gesprächspartnern. Und so verliefen die Plaudereien eine nach der anderen im Sande, was mit den Wochen und Monaten immer betrüblicher wurde.
Die Männer wollten es nicht glauben, dass sie mit ihrem femininen Aussehen immer noch allein war. Was stimmte mit den Kerlen in ihrem Lande nicht, fragte sie ein Mann aus Amsterdam offenherzig. Ein Mann aus Mailand behauptete gar, sie spiele hier nur rum, sie wolle gar keinen Partner, anders sei ihr Alleinsein nicht zu erklären. Kerstins Zweifel an der Richtigkeit dieses Ortes für ihre Zwecke wuchsen. Die Seite kam ihr immer mehr vor wie eine Mischung aus Social Media Plattform und Messengerdienst: Als ginge es nur um das Austauschen von Nachrichten zum Bedienen erotischer Phantasien, nicht aber um das Anbahnen einer Begegnung im Restaurant oder im Theater. Anders konnte sie es nicht begreifen, dass Schwiegermutterträume in ihren makellosen 30ern mit ihr hin und her texteten. Bei vielen rutschte sie ohnehin durch das Beuteraster: Diese suchten eine dominante Transfrau mit ihrer genitalen Erstausstattung und nicht eine passive wie Kerstin mit einer chirurgisch geformten Vagina.
Als sie diesen jungen Männern im Vorgriff auf eine denkbare gemeinsame Zukunft die Frage nach einem möglichen Kinderwunsch, den sie ihnen niemals würde erfüllen können, stellte, gaben diese nur ausweichende Antworten. Vielleicht, jetzt noch nicht, werde man dann sehen, habe man noch nicht drüber nachgedacht, Spaß haben sei wichtiger. Sie wollten von ihr wissen, zu wie vielen Orgasmen sie mit ihrer Pussy imstande sei, wie sie es mit BDSM halte, ob sie gern Kleider und Röcke trüge etc. Ein Mann aus Stockholm verblüffte sie mit seiner Offenheit: Er schätzte Transfrauen höher als geborene Frauen. Jene seien meist schöner als diese, sähen jünger und gepflegter aus, zelebrierten ihre Weiblichkeit, würden nicht regelmäßig einmal im Monat unter den blutigen Tagen leiden und könnten Männer nicht mit unerwünschten Kindern erpressen. Au weia, entfuhr es Kerstin, auch das war eine Form der Fetischisierung. Als Frau fühlte sie sich nicht gesehen.
Ihr Rubikon bezüglich einer Partnerschaft lag in der Sichtbarkeit. Sie bestand darauf, als mögliche Freundin dem Kreis ihres Partners vorgestellt zu werden. Ein Leben als heiß begehrte, aber strikt verheimlichte Geliebte im Dunkel war für sie inakzeptabel. Sie wollte keineswegs die sozialen Ängste und Zweifel eines Partners zu ihren eigenen machen. Sie kommunizierte die Erwartung, nach einer gewissen Zeit den Freunden, Kollegen und soweit vorhanden der Familie ihres Freundes vorgestellt zu werden. Sie wollte von ihm in die Oper begleitet werden und seinen Stolz auf sie am ganzen Körper spüren. Stürmisch wurde ihr entgegnet, dass man sie begehren und wie eine Trophäe präsentieren würde, so attraktiv und geil wie sie war. Aber da sich Kerstin nicht in einem Film oder einem Roman bewegte, sondern in der verdorbenen Welt, blieb es bei diesen wohlfeilen Beteuerungen.
Ein einziges Mal kam es dann tatsächlich zu einer Begegnung mit einem Mann. Er hatte ihr Alter, lächelte einladend, war in Bayern geboren und hatte als Entwicklungshelfer, Coach und Handwerker auf allen Kontinenten gearbeitet. Nun hatte er im Süden Schwedens einen Flecken Land im Wald gekauft, um dort eine Werkstatt zu bauen und um sich dort niederzulassen. Er war gerade im Land und konnte ein Treffen mit Kerstin einrichten. Sie aßen in einem indischen Restaurant und unterhielten sich angeregt, ohne dass der Funke richtig übersprang. Er hatte ihr eine langstielige gelbrote Rose mitgebracht, die noch Tage später ihre Kommode zierte. Dann fuhr er abrupt nach München, ohne ihr davon zu berichten. Ihre Verstimmung, als er sich Wochen später wieder meldete, konnte er nicht verstehen. Nein, dachte Kerstin, wenn es schon zu Beginn mit einem Mann an der Kommunikation hakt, wird es nichts. Außerdem war er ihr ohnehin zu klein.
Nach einem halben Jahr schließlich war sie bedient. Das Flirten mit den Männern auf der Seite kam ihr wie ein Videospiel vor, ohne Vorlauf und ohne Folgen. Sie schlief abends mit der Vorstellung ein, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie einen Partner fände. Die Realität am nächsten Tag unterschied sich indes in nichts von jener letzter Woche. Was auch immer sie unternahm, sie blieb allein; andere Frauen brauchten sich nur einmal mit den Fingern durch die Haare zu fahren, schon stand ihr neuer Bewunderer mit den Eheringen an ihrer Seite. Nach der Kündigung ihres Kontos nach einem halben Jahr kam es ihr so vor, dass eine virtuelle Pubertät ihr Ende gefunden hätte und sie bruchlos ins Stadium der alten Jungfer gewechselt wäre. Die Erfahrungen auf dieser Seite wollte sie nicht nutzen, um ein anderes Datingportal mit regionalem Bezug zu probieren: Dort wäre sie als Transfrau sowieso nicht zugelassen. So setzte sich ihr Parialeben, das sie im Alltag zur Genüge kannte, auch im digitalen Raum fort. Wer spricht von Lieben, Überstehen ist alles.