Der Kluge

Manchmal finden Bücher den Weg in meine Bibliothek, bei deren Anschaffung sich mir die Frage aufdrängt, wie es bloß so lange ohne sie ging. So geschah es unlängst mit dem „Etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache“, nach seinem ersten Bearbeiter der Gründungsausgabe von 1883 auch kurz der Kluge genannt. Während der Duden die Rechtschreibung und die Grammatik der deutschen Sprache verbindlich vorgibt und der Dornseiff ihren Wortschatz nach Sachgruppen ordnet, rekonstruiert der Kluge, woher die heute im Deutschen so selbstverständlich verwendeten Wörter eigentlich kommen, aus welchen Sprachen sie wann eingewandert sind und welche Sinnverschiebung sie gegebenenfalls dabei erfahren haben.

Ein solches Vorhaben ist natürlich ein work in progress, schließlich ist die Sprache, ob geschrieben oder gesprochen, ein lebendes Ensemble, das pausenlos neue Wörter adaptiert und dafür andere ausscheidet, sich in einem fortwährenden Evolutionsprozess befindet. Die Sprache ist dabei zahllosen Moden unterworfen, sie wird auf verschiedenen Ebenen eingesetzt, einzelne gesellschaftliche Gruppen pflegen ihre Codes, über die sie Zugehörigkeit generieren und Ausschlüsse produzieren. Dabei bildet die Sprache nicht nur Realitäten ab, sondern schafft im Vollzug des Schreibens auch selbst welche. Der Kluge nun listet rund 13.000 Lemmata auf und gibt detailliert Auskunft über ihre Herkunft und ihre Bedeutung(en).

So ist unter dem Eintrag „Schach“ zu lesen, dass es im 13. Jahrhundert aus dem altfranzösischen eschac ins Mittelhochdeutsche entlehnt wurde. Das Spiel selbst stammt aus Indien, im Altindischen lautete sein Name cátur-anga, soviel wie viergliedrig; gemeint sind Fußvolk, Reiterei, Streitwagen und Elefanten. Die Bezeichnung der wichtigsten Figur entlehnten die Araber aus dem Persischen als sah, was soviel wie König bedeutet. Das Spiel ist offenbar über die Mauren nach Europa gekommen, wo sein Name lateinisch und französisch beeinflusst wurde. Das lateinische scaccus meinte wohl Spielstein, das französische echec steht für Beute oder Prise, was wiederum Anleihen ans althochdeutsche scah erlaubt: zum Raub und zum Schächer.

Kurzum, der Kluge in der 25. Auflage von 2011 erzählt zu jedem Begriff eine kleine Geschichte und offenbart neben der Gewordenheit der Sprache ihre tiefe Schönheit und Vielfalt. Wer professionell mit der Sprache umgeht, viel liest und schreibt, wird im Kluge verlässliche, ja unentbehrliche Hinweise und Hintergründe finden und das individuelle Sprachempfinden trainieren und verfeinern. Wie in jedem guten Lexikon kann man sich auch im Kluge verlieren und sich von den Erläuterungen des einen Stichworts zum nächsten treiben lassen. Dabei liest es sich spannend wie ein Krimi, anregend wie ein Essay und lehrreich wie eine Enzyklopädie. Wer die deutsche Sprache liebt, wird am Kluge seine/ihre helle Freude haben.