Als die Bolschewiki mit der Oktoberrevolution von 1917 in Russland die Macht an sich rissen, hatten sie ideologisch nichts weniger im Sinn als die Erschaffung eines Neuen Menschen. Die Überwindung der Knechtschaft des Zarentums, so die Verheißung Vladimir Iljitsch Lenins, sollte zum ersten Arbeiter- und Bauernstaat der Geschichte führen und die Ausbeutung des Proletariats ein für alle Mal beenden. Mit der Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) 1922 nahm dieser Gedanke administrative Gestalt an. Alle Berufsgruppen hatten sich der Errichtung des ersten sozialistischen Staates auf Erden zu verschreiben, auch die Maler, Architekten und Designer. Sie sollten die politische und soziale Dimension des Sozialismus im Bauen und im Gestalten räumlich wie fasslich ausdrücken. Der Weg des sowjetischen Designs begann.
Im englischen Wort „Design“, wie im französischen „Dessin“, steckt die lateinische Wurzel des „designare“, was so viel wie beabsichtigen, bezeichnen meint. Das lateinische „signum“, das Zeichen, klingt im heutigen Signal nach. Fachsprachlich wird unter dem „Design“ die Gestaltung, der Entwurf verstanden. Dies betrifft Küchengeräte ebenso wie industrielle Produkte, Möbel ebenso wie ganze Häuser. Davon abzugrenzen ist das „Dekor“, das auf das lateinische decus, die Zierde, den Schmuck zurückgeht. Im Russischen ist das ДИЗАЙН dem Design homophon, allerdings war dieser Begriff in der Sowjetunion kaum geläufig und wurde erst ab 1987 einschlägig verwendet. Ein reich illustrierter Band (bei Scheidegger & Spiess) erschließt den Interessierten die Geschichte des sowjetischen Designs vom Konstruktivismus bis zur Moderne.
Der Band rekonstruiert drei Phasen des Designs in der UdSSR. Die 1920er Jahre stehen im Zeichen des Aufbruchs; berühmte Künstler der Avantgarde wie El Lissitzky, Vladimir Tatlin („Nicht das Neue, nicht das Alte, sondern das Notwendige!“), Kasimir Malewitsch und Alexander Rodschenko stellen sich in den Dienst des jungen Staates. Sie experimentieren mit Werkstoffen, Formen und Farben, die streng geometrische Struktur ihrer Entwürfe für Möbel findet sich aufgehoben im Stil des Konstruktivismus. Die zweite Phase reicht von den 1930er bis in die frühen 1950er Jahre. In dieser Zeit der absolutistischen Herrschaft Josef Stalins kommt dem Design eine martialische Funktion zu. Exemplarisch ist hier der (nie verwirklichte) Palast der Sowjets zu nennen, für den 1931 die Erlöser-Kirche im Zentrum Moskaus gesprengt wurde. Der von Boris Iofan entworfene Bau sollte 400 Meter hoch sein und auf seinem Plateau eine über 100 Meter hohe Skulptur eines Arbeiters tragen. Verschwenderisch ausgestattet wurde hingegen die Moskauer Metro, deren Bahnhöfe zu unterirdischen Palästen des Volkes wurden. In der dritten Phase vom Ende der 1950er bis in die 1980er Jahre geht es um die Massenproduktion von Konsumgütern wie Möbeln, Geschirr, Elektrogeräten und Kleidung. Die UdSSR öffnet sich unter Nikita Chruschtschov zaghaft dem Westen und geht in die offene Systemkonkurrenz mit den USA. Das Monumentale der Stalin-Ära tritt zurück hinter eine Form des Praktischen wie Behaglichen. Mit dem Roten Stern sowie Hammer und Sichel werden Produkte des Alltags wie Wodkaflaschen oder Theaterplakate gebrandet.
In den 1920er Jahren ist das sowjetische ДИЗАЙН im regen Austausch mit gestalterischen Strömungen in Frankreich, Deutschland und Italien. Eine Ausstellung 1922 in Berlin weckt im westlichen Europa das Interesse an den auch künstlerischen Entwicklungen im jungen Sowjetreich. Die stark perspektivischen Zeichnungen von Gebäuden oder Parkanlagen etwa wären ohne Weiteres auch im deutschen Bauhaus möglich; gleiches gilt für bemaltes Porzellangeschirr oder auch Skizzen für Schreibtischlampen. Eine Indienstnahme der Form für die Funktion ist aus den überlieferten Entwürfen ablesbar. Ausgesprochen praktisch ist eine Wandkombination, die sich mit wenigen Handgriffen von einem Schrank in einen Sekretär und für die Nacht in ein Bett verwandeln lässt – ein Tribut an die kleinen Wohnungen der Zeit nach dem Bürgerkrieg. Reichlich utopisch hingegen das Modell Vladimir Tatlins für das Monument der III. Internationale von 1919; die Verwirklichung dieses skulpturalen Entwurfes wäre mutmaßlich an der Statik gescheitert. Das hinderte Tatlin nicht daran, einen Freischwinger zu konzipieren und ihn im Aufsatz „Der Künstler als Organisator des Alltagslebens“ (1929) zu preisen.
In den 1930er Jahren ist das sowjetische Design endgültig die visuelle Seite einer totalitären Ideologie. Das lässt sich gut ablesen am „Haus der Regierung“ (Architekt Boris Iofan, fertiggestellt 1931) unmittelbar am Moskauer Kreml gelegen, in dem prominente Köpfe der KPdSU und der Kommissariate ihre Wohnungen hatten. Diese waren vormöbliert und durften von den Bewohnern nicht verändert werden. Ähnlich wuchtig der Entwurf des Gebäudes der staatlichen Luftfahrtgesellschaft Aeroflot (Dmitry Chechulin, 1934), vom fünfzackigen Stern bestirnt. Weitere Prestigeobjekte waren die Pavillons der UdSSR für die Weltausstellungen 1937 in Paris und 1939 in New York (Boris Iofan, Semyon Gelfeld, Yury Zenkevich, Dmitry Kasatkin). Die steinernen Hallen waren gebaute Propaganda, signiert durch die sogenannten Schockarbeiter sowie den Gründer respektive den Führer der UdSSR, Lenin beziehungsweise Stalin. Diese überlebensgroßen Monumente haben den beabsichtigten Effekt, dass sich der einzelne Mensch winzig fühlt, nicht als Individuum, sondern als Teil einer Masse in der Dauermobilisierung, den faschistischen Regimen in Italien und Deutschland nicht unähnlich. Die zur selben Zeit entstandenen Skizzen der Bahnhöfe der Untergrundbahn in Moskau haben die liebliche Ruhe venezianischer Veduten; die von Rundbögen gestützten Decken der Bahnhöfe sind kassettiert, der Boden mit Marmor im Schachbrettmuster ausgelegt. Die Pracht und die Schönheit mittelalterlicher Kathedralen werden dem Volk bei seiner täglichen Verkehrsfahrt geschenkt.
Mit dem Tauwetter unter Nikita Chruschtschov geht nicht nur eine behutsame politische Liberalisierung einher, das Design wendet sich wieder stärker den Menschen und ihren Konsumbedürfnissen zu. In der ganzen Union entstehen einfache Wohnblocks, um die grassierende Wohnungsnot zu lindern. Die Grundrisse nehmen die Trennung in Wohn-, Ess- und Schlafzimmer auf, in den Regalen finden nicht nur Bücher, sondern auch Radios und Fernseher Platz, Sessel der 1960er Jahre zeigen die organischen Formen und knalligen Farben der Op-Art. Das gilt auch für Bars, Restaurants und Hotels der Zeit. Bei den Skizzen für die Pavillons der Nachkriegsjahre kommen Glas und Stahl als tragende wie strukturierende Elemente hinzu, das flutende Licht gibt den Bauten Leichtigkeit und Eleganz. In den 1980er Jahren ziehen auch in die sowjetischen Wohnungen Gemütlichkeit und Bürgerlichkeit ein. Gepolsterte Sofas stimmen auf Bequemlichkeit ein, niedrige Tische wirken leger, Vase und Aschenbecher aus schwarzem Porzellan sind funktional und kleidsam zugleich. Die Menschen haben ein familiäres, privates Leben neben dem Kollektiv am Arbeitsplatz und den öffentlichen Plätzen der Paraden und Kampagnen.
Die Sowjetunion ist seit nunmehr 29 Jahren Geschichte. Das Design ihrer Existenz ist ganz sicher eine sprudelnde Quelle des Alltags, ihrer Trivialitäten, Nischen und Sehnsüchte; im Kleinen der Vitrinen, der Stühle, der Tassen und der Lampen spiegelt sich das Große Ganze des Sozialismus, seine Knappheit, das Fahle und das Ausgelaugte. Moskau und Petersburg sind heute abseits ihrer pittoresken Zentren voller restaurierter klassizistischer Gebäude tosende Metropolen mit den gleichen Problemen des Autoverkehrs, der verdreckten Luft und des fehlenden Platzes wie Rom, Schanghai, Los Angeles und Rio. In der russischen Hauptstadt werden heute Mikroapartments für die globalen Geistesarbeiter angeboten, basierend auf den Plänen der 1920er Jahre, jeder Zentimeter optimal genutzt. Das opulent gestaltete Buch über „Soviet Design“ ist kaum geeignet, nostalgische Gefühle nach der UdSSR zu wecken – vielmehr ist man beim Studieren der Interieurs dankbar für schmückende Falten, kostbare Materialien, Zonen der Ruhe, stimmige Proportionen. Schließlich will der Mensch sich wohlfühlen in seiner Wohnung, seiner nach der Kleidung dritten Haut. Da ist der Wunsch nach Schönheit kein bourgeoiser Luxus, sondern eine anthropologische Konstante. Eine ausgedehnte Reise in die ehemaligen Sowjetrepubliken kann die Leserin demnächst auf die Spuren dessen führen, was einst „Soviet Design“ war.