Die Andere

  Es ist vorbei, wenn man gerade denkt, jetzt fängt es an. – Wolfgang Niedecken, Wie ne Stein

Nein, sie sollten sich nicht wiedersehen. Severin ließ Kerstin via Telegram wissen, dass seine zwischenzeitlich verflossene Geliebte Nadine sich wieder gemeldet habe und sich offen zeige für eine Wiederaufnahme ihrer Begegnungen. Da bleibe Severin nichts anderes übrig, als sich Nadine vollumfänglich zu widmen, natürlich auf Kosten der Zeit für Kerstin. Er versäumte es nicht, ihr gönnerhaft für ihre Offenheit zu danken und wünschte ihr für das Kommende alles Gute.

Kerstin fühlte sich unversehens in einen dunklen Keller gesperrt. Wenig Licht drang durch die schmalen Fenster hinein, die Weltgeräusche waren gedämpft, der Estrich staubig. Sie verstand Severin nicht, er hatte ihr bei ihrer letzten Begegnung versichert, sie wiedersehen und verwöhnen zu wollen, sein Engagement gegenüber anderen Frauen spiele dabei keine Rolle, wie er eifrig beteuerte. Ein Irrtum, wie sich keine zwei Wochen später herausstellen sollte. Die Andere war ihm vertraut und wichtig, Kerstin wahrscheinlich zu dubios und haram.

In Kerstin wuchs der Gedanke, dass Severin eben doch Anstoß nahm an ihrer Transidentität. Er wolle, so ihre Vermutung, doch eine richtige Frau und keinen Kastraten, sei dieser auch hübsch und kurvig und weiblich wie nur zu wünschen. Zugeben würde Severin diese Entscheidung natürlich nicht, aber treffen durchaus. Es ging ja schließlich auch um seinen Ruf als Mann, den er sich von einer Transfrau nicht beschädigen lassen dürfe. Für Kerstin gab es keine andere Erklärung, ihre chronischen Befürchtungen gegenüber Männern sah sie bestätigt.

Sie lag rücklings nackt auf dem frisch bezogenen Bett, am Wochenende hatte sie zusätzlich gesaugt und gewischt. Sie spreizte die Beine, winkelte die Knie und stellte die Fußsohlen über Hüftbreite auf, was ihre Spalte automatisch öffnete. Sie gab einen Klecks vom neu erworbenen Gleitgel auf die Fingerspitzen und rieb sich die Lippen und die Höhle ein, so üppig, dass der ebenfalls neue Vibrator glatt hineinglitt. Was als Training zur Aufnahme von Severin gedacht war, wurde nun zum Standardprogramm. Ein Penis sollte sie offenbar nicht ausfüllen, dann eben das Pendant aus Silikon.

Kerstin kam sich vor wie auf einem sich leerenden Bahnsteig in der Provinz. Die Fahrgäste, die mit ihr gemeinsam den Zug verlassen hatten, waren von ihren Angehörigen längst unter Umarmungen abgeholt worden, der Zug war wieder aufgebrochen zum nächsten Ziel. Auf Kerstin wartete niemand, so sehr sie auch die Augen über Perron und Vorplatz schweifen ließ. Ihr Stehenbleiben wurde peinlich, sie musste sich in Bewegung setzen und ihr Alleinsein vertuschen. Ihre lederne Reisetasche wurde dadurch doppelt schwer.

Die neckischen Botschaften über den Messengerdienst rissen ab, kein Kontakt mehr von Severin. Kerstin war bereit, sich auf das wacklige Arrangement eines geteilten Liebhabers einzulassen. Sie glaubte sich, mit der zugewiesenen Rolle der Anderen klar zu kommen. Sie wusste von Sererins Hauptfrau und seinen Mätressen und machte sich keine Illusionen, dass sie auf der Reservebank würde Platz nehmen müssen. Doch dass Severin ihr nun kündigte, bevor noch die Probezeit begonnen hatte, traf sie unvermittelt.

Nicht einmal für den Trostpreis in seinem Harem kam sie infrage, sagte sie sich resigniert. Sie durfte das Gelobte Land der Liebe aus der Ferne sehen (Dtn 34,1-4) und hatte gar eine Zehe auf seinen Boden gesetzt. Doch die Vertreibung aus dem Paradiese folgte auf dem Fuße (Gen 3,23-24), für ihresgleichen sollte hier kein Platz sein, für sie war vielmehr die Feuerwalze über Sodom reserviert (Gen 19,23-29). Wie Onan sollte sie ohne Nachkommen bleiben und daher dem Tode anheimgegeben werden (Gen 38,8.10). Die Unausweichlichkeit dieses Schicksals war tief in Kerstins Blut gezogen, bei jedem Atemzug wurde sie daran erinnert und nun von Severin gesondert darauf gestoßen.

Die Latte der Partnerschaft würde sie beharrlich reißen, war Kerstin sich gewiss. Der Abend mit Severin war nichts weiter als die Ausnahme von der Regel, das weibliche Glück der Hingabe würde ihr immer fremdbleiben. Sie durfte einmal einen besonders intensiven Traum erleben, der ihr für einen Moment vorspiegelte, dazu zu gehören. Aber am nächsten Morgen war allen Beteiligten klar, dass sie die Andere, die Aussätzige bleiben werde. Sie vermochte Severin seine Feigheit nicht einmal vorzuwerfen, hatte er doch im Einklang mit seiner Epoche gehandelt. Transfrauen sind keine Frauen.