Das hat es in der Geschichte des modernen Schachs noch nicht gegeben: Ein Match um die Weltmeisterschaft steht vor der Tür und die Kiebitze interessiert es kaum. Am Ostersonntag spielen der Russe Ian Nepomniachtchi und der Chinese Ding Liren in Astana die erste Partie um den Titel, ohne dass auch nur eine deutsche Schachseite eine Vorschau dazu lieferte. Das liegt weniger an der Klasse der beiden Kontrahenten, sondern am fehlenden Titelverteidiger Magnus Carlsen, der sich die Anstrengung eines weiteren Matches nicht zumuten wollte. Einen klaren Favoriten für diese Weltmeisterschaft außer Konkurrenz gibt es nicht.
Das austragende Land Kasachstan liegt geografisch passend zwischen Russland und China, als Hauptsponsor tritt der Finanzdienstleister Freedom Holding auf, der an der New Yorker Nasdaq gelistet ist. Der Russe Ian Nepomniachtchi, Jahrgang 1990, spielt seinen zweiten WM-Kampf, im Dezember 2021 ist er in Dubai gegen Magnus Carlsen entsetzlich unter die Räder gekommen und hat sich nach der knappen Niederlage in der sechsten Partie wie ein Amateur fertigmachen lassen. Es wird spannend sein zu sehen, ob er seine Lehren aus diesem schachlichen Desaster gezogen hat und heuer etwas weniger halbseiden spielt. Den aktuellen Sanktionsregeln gegen Russland nach der Invasion der Ukraine entsprechend tritt er in Astana unter der neutralen Flagge der FIDE ans Brett.
Ding Liren ist 1992 geboren, er trägt den Großmeistertitel seit 2009. Der Chinese ist die klare Nummer Eins seines Landes und zählt seit Jahren zur absoluten Weltspitze, seine höchste Elozahl von 2816 Punkten datiert vom November 2018. Er gilt als flexibler Spieler, der sich sowohl in theoretischen Positionen wie auch in verwickelten taktischen Stellungen wohl fühlt; seine enorme Rechenfähigkeit kommt im auch im Endspiel zupass. Durch die katastrophale Covid-Politik seines Landes konnte er in den letzten Jahren an kaum einem Turnier der Spitzenklasse teilnehmen, sodass über seine gegenwärtige Form nur gemutmaßt werden kann. Die Teilnahme an dem Match in Kasachstan verdankt er einem doppelten Zufall: Ins Kandidatenturnier 2021 in Madrid rutschte er nur, weil der qualifizierte Sergej Karjakin wegen kriegsverherrlichender Tweets international gesperrt wurde; als zweiter eben dieses Turnieres spielt er nun gegen dessen Sieger um die WM, weil der Titelverteidiger Magnus Carlsen freiwillig verzichtet.
Dieser Coup des Norwegers, wenige Wochen nach seinem Triumph von Dubai Ende Dezember 2021 erstmals angedeutet, entwertet den Wettkampf in Astana zwangsläufig. Anders als Bobby Fischer, der 1975 nicht zur Titelverteidigung antrat und damit Anatoli Karpow kampflos zum Weltmeister machte, hat Carlsen ungebrochen Freude am Schach und bleibt die unumstrittene Nummer Eins der Weltrangliste mit mehr als 50 Zählern Vorsprung. Carlsen initiiert Onlineturniere, er kommentiert die Partien seiner Großmeisterkollegen, er gewinnt hoch besetzte Turniere im wieder anlaufenden Schachzirkus und ist Weltmeister im Blitz sowie im Schnellschach. Seine Intuition am Brett, sein Siegeswille und seine Endspieltechnik sind auch nach zehn Jahren als (scheidender) Weltmeister beispiellos. Er bleibt der Champion aller Klassen, egal, wer in der kasachischen Steppe die Krone holt.
Ding Liren freut sich natürlich über seine unverhoffte Chance, erster chinesischer Weltmeister zu werden. China ist in den vergangenen 30 Jahren zu einer Großmacht im Schach avanciert, neben Russland, den USA, der Ukraine, Frankreich und jetzt auch Indien. Bei den Frauen stellen die Chinesinnen die Weltmeisterin und ihre Herausforderin, auch bei Olympia holten die chinesischen Spielerinnen und Spieler mehrfach Gold; bei den Männern ist die Dominanz des Reiches der Mitte noch nicht ganz so erdrückend. Beim Turnier in Wijk aan Zee im Januar dieses Jahres lieferte Ding eine durchwachsene Vorstellung ab; er verlor drei Partien und verblüffte als Freund geschlossener Eröffnungen mit Weiß mit dem ersten Zug e4, gedacht wohl als Signal der Verwirrung an das Team seines Gegners in Astana. Die Partien zwischen den beiden werden anfangs im Zeichen gegenseitiger Neutralisierung stehen, das Risiko wird wohl erst in der zweiten Matchhälfte hochgeschraubt werden.
Es ist schade, dass dieser bescheidene, fast schon schüchterne junge Mann nicht die Gelegenheit bekommt, sich mit dem Besten seiner Zunft zu messen. Im Gegensatz zu Nepomniachtchi hätte Ding gegen Carlsen durchaus seine Anteile haben können. Doch Carlsen hatte nach fünf gewonnenen WM-Kämpfen keine Motivation mehr, gegen einen Spieler seiner Generation zu kämpfen; gegen den jungen iranisch-französischen Herausforderer Alireza Firouzja hätte er sich dem Vernehmen nach noch einmal zu einer Titelverteidigung aufraffen können. Doch am Ende aller Konjunktive nimmt Carlsen, ganz ohne etwas zu tun, bedeutsam Einfluss auf die Geschichte der Kämpfe um die Weltmeisterschaft. Er hat dem Schach in den letzten 15 Jahren seinen Stempel aufgedrückt mit einer Überlegenheit, wie man sie seit der Ära Garri Kasparow nicht mehr gesehen hat. Der neue Weltmeister wird einer des Übergangs sein.
Rein äußerlich betrachtet, gibt es keinen Grund, sich über die Begegnung in Kasachstan zu beschweren. Gespielt wird im feinen St. Regis Astana Hotel, die Börse von 2 Mio. Euro wird im Verhältnis 60:40 zwischen dem Sieger und dem Verlierer aufgeteilt werden. Steht nach den angesetzten 14 Partien mit klassischer Bedenkzeit noch kein Gewinner fest, wird dieser in einer Schnellschachverlängerung ausgespielt. Für Russland ist der WM-Titel nach wie vor mit einem großen Prestige verbunden; Jan Nepomniachtchi, der sich im März letzten Jahren vorsichtig, aber deutlich mit anderen Großmeistern gegen den Krieg gegen die Ukraine ausgesprochen hat und dennoch im Land geblieben ist, soll ihn nun „zurück“ holen. Gewänne Ding Liren, zahlten sich Chinas systematische Investitionen ins Spiel der Könige erneut aus. Doch in jedem Fall bleibt Magnus Carlsen der Maßstab des Schachs. Er hat sich vom legendären Programm AlphaZero inspirieren lassen, mag die schräge Variante Chess960 und sieht die Zukunft des Spiels im Modus mit verkürzter Bedenkzeit, ein erfolgreicher Geschäftsmann ist er obendrein. Souverän.