Dubai

Ein ganzes Jahr mussten die Schachfans coronabedingt warten, doch nun startet heute die Schach-WM in Dubai mit der Eröffnungsfeier. Am Freitag werden Weltmeister Magnus Carlsen und sein Herausforderer Ian Nepomniachtchi ihre erste Partie spielen. Das Match, das über 14 Partien gehen wird, ist spektakulärer Teil der Weltausstellung in den Vereinigten Arabischen Emiraten, die ebenfalls um ein Jahr hatte verschoben werden müssen. Es könnte zudem das letzte Duell mit Protagonisten des legendären Jahrgangs 1990 sein, dem beide Großmeister angehören. Die Fachleute rechnen mit einem spannenden und engen Match voller aufregender Partien.

Der norwegische Weltmeister Magnus Carlsen dominiert seit einem Jahrzehnt die Schachwelt. Seit 2010 liegt er mit einer Elozahl jenseits der 2800 an der Spitze der Weltrangliste, seit 2013 hält er den Weltmeistertitel im klassischen Schach. Er besiegte Viswanathan Anand (2013 Chennai, 2014 Sotchi), Sergey Karjakin (2016 New York) und Fabiano Caruana (2018 London) in Matches um den Titel. Alle großen Turniere hat er mehrfach gewonnen, nur bei den Olympiaden gibt es für den Norweger nichts zu holen, weil sein Heimatland nicht die Schachtradition und Leistungsdichte hat wie Russland, die USA, Indien, die Ukraine oder Armenien. In den nun fast zwei Jahren der Corona-Pandemie hat er eine Reihe von Online-Turnieren ins Leben gerufen, die geholfen haben, das behördlich verordnete Herunterfahren des schachlichen Lebens zu kompensieren.

Der russische Herausforderer Ian Nepomniachtchi war wie Carlsen bereits in der Jugend erfolgreich, sein Aufstieg in die absolute Weltspitze verlief aber langsamer. Er ist dreifacher russischer Meister und ein erfolgreicher Spieler für sein Land bei Schacholympiaden, gegenwärtig liegt er auf Platz fünf der Weltrangliste. Es scheint, als habe er nach den ermunternden frühen Siegen das Schachspiel nicht sonderlich ernstgenommen und zu wenig Zeit in systematisches Training investiert; längere Zeit spielte er ausgiebig das Strategiespiel Dota, noch bevor es damit Geld zu verdienen gab. Das Kandidatenturnier in Jekaterinburg zur Ermittlung des Herausforderers, das im März 2020 nach der Hälfte unterbrochen und im März 2021 fortgesetzt wurde, gewann er überzeugend in kontrolliertem Stil. Das Match von Dubai wird sein erstes sein.

Magnus Carlsen, dessen Vater Henrik seinen Job als Ingenieur quittierte, um seinen jugendlichen Sohn zu Turnieren zu begleiten, ist ein sehr physischer Spieler, modisch gekleidet und top trainiert. Er spielt gern Fußball und schwimmt viel, seine überlegene Ausdauer und Konzentration zahlen sich gerade in langen Partien über fünf und mehr Stunden aus. Fehler oder auch nur Ungenauigkeiten kommen bei ihm sehr selten vor, viel häufiger gelingt es ihm, seine Gegner unter Dauerdruck zu halten, der sie nicht die beste Fortsetzung finden und schließlich schwache Züge machen lässt. Carlsen hat ein breites Eröffnungsrepertoire hat, legt es aber nicht unbedingt auf einen theoretischen Vorteil in der Eröffnung an. Vielmehr verlässt er regelmäßig die ausanalysierten Pfade und strebt Stellungen an, in denen seine Gegner nicht ihrer Heimvorbereitung folgen können. Sein Gespür für die Harmonie der Figuren ist legendär und hat nur wenige Vorläufer in der Geschichte.

Carlsen wird immer stärker, je länger die Partie dauert, seine besten Leistungen zeigt er im Endspiel, das er mit selten gesehener Härte, Eleganz und Effizienz behandelt und wo er regelmäßig Positionen für die Lehrbücher kreiert. Nicht zuletzt ist Carlsen ein cleverer Geschäftsmann, der mit seiner Firmengruppe Play Magnus an die Osloer Börse gegangen ist. Zu seinem Imperium zählen eine Schach-App, eine Trainings- und Übertragungswebseite und seit einem Jahr auch das renommierte Magazin New in Chess. Schon mit 20 Jahren trat er als Testimonial einer Modemarke auf. Er scheint den Rummel, den er stets dort auslöst, wo er auftaucht, zu genießen. Ein guter Verlierer ist er aber nicht: Nach einer Niederlage passiert es schon, dass er wortlos vom Brett aufsteht und die vertraglich vereinbarte Pressekonferenz sausen lässt. Ein Pokerface während der Partie hat er nicht.

Ian Nepomniachtchi wuchs in einem musisch-künstlerischen Umfeld auf, seinen Vater verlor bereits in der Kindheit. An seiner Erziehung beteiligten sich neben seiner Mutter, einer Lehrerin, auch sein Onkel und sein Großvater, beide ebenfalls Lehrer. Er las die russischen Klassiker, lernte etwas Deutsch und studierte Journalismus. Nepomniachtchi ist auf der Höhe der aktuellen Eröffnungstheorie, strebt mit beiden Farben nach der Initiative und kann mittlerweile sehr vielseitig spielen; trockene Stellungen mit schwerblütigen Manövern liegen ihm ebenso wie scharfe Theorieduelle, Mattangriffe oder komplizierte Endspiele. Seine bislang prinzipielle Schwäche mangelhafter Kräfteeinteilung scheint er überwunden zu haben, nach einem furiosen Start eines Turniers brach er oft in der zweiten Hälfte ein und verlor dann die Führung. Heute willigt er auch pragmatisch in ein Remis ein und geht ökonomisch mit seinen Ressourcen um.

Über seine Sekundanten für das Match in Dubai schweigt er sich im Interview ebenso aus wie Carlsen, man darf aber vermuten, dass die russischen Elitespieler wie Alexander Grischuk, Peter Svidler und Sergey Karjakin ihren Landsmann bei der Vorbereitung auf das Match unterstützen. Schließlich steht Schach in Russland in einer langen Tradition, der Titel wird als nationales Heiligtum betrachtet. Unter den internationalen Spitzenspielern gibt es kaum jemanden, der so schnell zieht wie Ian Nepomniachtchi. Er wirkt körperlich eher gemütlich, sein angedeuteter Dutt gibt ihm die Aura eines Samurai am Brett. Sein phlegmatischer Habitus macht aus ihm eine Paradebesetzung eines Tschechow-Dramas. Er hat in Dubai nichts zu verlieren und wird Carlsen gern die nominelle Favoritenrolle überlassen. In Partien mit langer Bedenkzeit hat er ein positives Ergebnis gegen den Weltmeister, eingeschüchtert tritt er ihm gegenüber nicht auf.

Die WM findet im Rahmen der Weltausstellung von Dubai in den Vereinigten Arabischen Emiraten am Persischen Golf statt, die Wettkampfbörse beläuft sich auf 2 Millionen Euro. Dieser Austragungsort darf auch als Erfolg der Politik des seit 2018 amtierenden Präsidenten des Weltschachverbandes FIDE, Arkadi Dworkowitsch, gelten, der sich um institutionelle Förderer des Schachs bemüht. Seit einiger Zeit setzen die Emirate auf das Sport-Sponsoring, so sind die Fußballvereine in Barcelona, Manchester und Paris im Besitz der Scheichs. Für die laufende Expo, die im Zeichen der Smart City steht, werden bis März 2022 etwa 25 Millionen Gäste aus aller Welt erwartet. Auf dem 440 Hektar umfassenden Ausstellungsgelände präsentieren sich 190 Länder mit einem eigenen Pavillon. Das Match ist angesetzt auf 14 Partien mit klassischer Bedenkzeit, fünf Ruhetage sind vorgesehen, sodass es dreimal an drei Tagen hintereinander zu Partien kommen wird. Sollte nach 14 Runden der Stand 7:7 sein, entschiede eine Schnellschach-Verlängerung über den Titel.

Es kann gut sein, dass dieses Aufeinandertreffen das letzte intergenerationelle der 1990er Spieler ist. Zu dieser goldenen Generation zählen neben den Kontrahenten von Dubai auch Sergey Karjakin (Russland), Maxime Vachier-Lagrave (Frankreich) und Dmitry Andreikin (Russland) sowie die zwei Jahre jüngeren Fabiano Caruana (USA) und Ding Liren (China). Vor acht Jahren beendete Magnus Carlsen mit seinem überzeugenden Sieg die Ära des 21 Jahre älteren Viswanathan Anand; beim nächsten WM-Kampf (mutmaßlich 2023) könnte dann ein Vertreter der jüngeren Generation der Herausforderer werden. Hier wird ein ums andere Mal Alireza Firouzja (Frankreich, geboren 2003) genannt, der mit einer Live-Elo von 2803 auf dem zweiten Rang der Weltrangliste notiert; auch Jan-Krzysztof Duda (Polen, geboren 1998), Wei Yi (China, geboren 1999) und Andrei Esipenko (Russland, geboren 2002) sind mögliche Aspiranten.

Noch allerdings ist Magnus Carlsen im Schach das Maß aller Dinge. Der Norweger lässt bislang keinerlei Anzeichen von Müdigkeit oder Faulheit erkennen und geht mit großem Optimismus in den Wettkampf mit Ian Nepomniachtchi. Carlsen hat nie den Fehler gemacht, seine Gegner zu unterschätzen, er präpariert sich allumfassend und professionell auf seine Turniere und Wettkämpfe. Bei seinem ersten WM-Kampf im indischen Chennai logierte er in einem örtlichen Fünf-Sterne-Hotel und hatte einen privaten Koch im Team. Individuell hat er alles erreicht, was es im Schach zu erreichen gibt, finanziell wie sportlich als auch vom Renommee her. Doch bei der unter Kiebitzen beliebten Frage nach dem „Größten Spieler der Geschichte“ liegt der russische Großmeister Garri Kasparow (Jahrgang 1963) noch vor ihm: Er war 20 Jahre lang die Nummer Eins der Weltrangliste und behielt den Titel 15 Jahre lang, zudem engagierte er sich über Jahre in der Schachpolitik und schrieb als Autor Standardwerke. Für ein Schachfest auf höchstem Niveau ist in Dubai alles angerichtet.