eEstland

Das kleine Land am Nordrand des Baltikums hat nach 1991, dem Jahr der erneuten Unabhängigkeit, aus der Not eine Tugend gemacht. Keine nennenswerten Rohstoffe, keine Industrie, eine marode Infrastruktur, dazu der wegbrechende Markt der alten Sowjetunion und kein papierenes Grundbuch – Estland übersprang die industrielle Phase des Festnetzes und setzte wirtschaftspolitisch mutig auf die keimende Pflanze der mobilen Kommunikationstechnologie. Heute ist das Land mit seinem flächendeckenden superschnellen WLAN ein Eldorado für Gründer und ein Paradebeispiel für die Digitalisierung eines Staates.

Seit 2000 kann man die Steuererklärung online erledigen, elektronisch wählen geht seit 2005. Seit 2008 ist das Gesundheitswesen komplett digital vernetzt, seit 2014 kann man gar eine E-Staatsbürgerschaft beantragen. Dabei bleiben die Menschen Eigentümer ihrer Daten, die der Staat für seine Dienstleistungen benötigt. Mit der potenziellen Verwundbarkeit eines eEstlandes geht die Bevölkerung pragmatisch um. Als 2007 ein mutmaßlich russischer Hackerangriff das Bankenwesen lahmlegte, nahmen ihn die Nerds an den Rechnern zum Anlass, die Löcher im System zu stopfen. Dabei profitiert das estnische Internetbusiness vom Erbe des sowjetischen Militärs und dessen Ingenieurstradition.

Die kleine Republik sieht in den Mitgliedschaften der Europäischen Union und der NATO (jeweils seit 2004) eine Lebensversicherung. Das Verhältnis zu den im Land lebenden Russen ist nicht erst seit der Ukraine-Krise 2014 angespannt, ihr Anteil an der Bevölkerung liegt bei rund 30 Prozent, in Tallinn bei 50 und in Narva gar bei 90 Prozent. In Estland ist die 200 Jahre währende erzwungene Zugehörigkeit zum Zarenreich ebenso wenig vergessen wie die ab 1940 folgenden Jahrzehnte als Sowjetrepublik. Im Park des Historischen Museums in Tallinn verwittern die wuchtigen Betonstatuen der bolschewistischen Führer Lenin, Trotzki und Stalin als Mahnung an die Zeit im Gefängnis des kommunistischen Imperiums.

Das knapp 800 Jahre alte Tallinn, vom Deutschen Orden als Reval gegründet, hat seine mittelalterliche Altstadt mit EU-Geldern behutsam restauriert. Die City wird bevorzugt von den Touristen angesteuert, die mittlerweile auch über die gewaltigen Kreuzfahrtschiffe ins Land kommen. Während im Stadtteil Lasnamäe mit seinen Plattenbauten überwiegend Russen (m/w/d) leben, Nachfahren der Kader und Soldaten der Roten Armee, blüht im Viertel Telliskivi die Gründerszene des Landes. In den alten Lagerhallen treffen Informatiker auf Investoren; hier geht es um Deep Learning, Smart Cities, die Blockchain-Technologie, generell um die Verheißungen der Künstlichen Intelligenz.

Bei der zentralen Speicherung der Gesundheitsdaten vertrauen die Esten den Regeln des Datenschutzes. Ein Arzt, der die hinterlegten Daten eines Patienten abfragen möchte, muss dafür einen guten Grund haben; kann er diesen nicht vorweisen, droht ihm im schlimmsten Fall der Verlust der Approbation. Allerdings leidet das estnische Gesundheitswesen an einem irdischen Übel: Estnische Mediziner gehen nach ihrem Studium bevorzugt nach Finnland oder in die USA, weil sie dort deutlich besser verdienen als daheim. Das hat zur Folge, dass die Patienten (m/w/d) in Estland, wenn es sich nicht um einen Notfall handelt, Monate auf einen Arzttermin zur ambulanten wie auch stationären Behandlung warten müssen.

Das leuchtende Vorbild ist Skype, 2003 von estnischen Programmierern entwickelt und später von Microsoft gekauft. Das KI-Start-up Geometric Intelligence gehört mittlerweile zu Uber. Es werden Apps zum Versenden von Geld entwickelt und zum Identifizieren von Bankkunden. Eine Firma zu gründen ist eine Sache einer halben Stunde, viele junge Leute mit Ideen befruchten sich in Inkubatoren gegenseitig, erfolgreiche Gründer geben Businesstipps an ihre Kollegen weiter. Dabei verzichten sie auf den pathetischen Predigerton des Silicon Valley, bewahren sich eine nordische Gemütlichkeit und bei aller Geschäftigkeit eine tiefe Liebe zur Natur.

Auf dem Land dominieren bunt angestrichene Holzhäuser, Moore, Seen und Wälder prägen die dünn besiedelte Landschaft. Die Küste ist durch Schären und Halbinseln charakterisiert, die Strände sind kaum berührt, ständig liegt ein salziger Wind über dem Dünengras. Die Sommer sind angenehm warm, der Herbst kann regnerisch und neblig werden, die Winter sind klar, kalt und lang. Das Estnische als Teil der finno-ugrischen Sprachfamilie ist eng mit dem Finnischen verwandt, seit 1965 verkehrt eine Fähre zwischen den 80 km auseinander liegenden Hauptstädten Tallinn und Helsinki. Die Finnen kommen für eine Tagestour nach Estland, um sich mit Alkohol und Tabak einzudecken, die Esten (m/w/d) fahren über die Baltische See, um die Schönheiten der weißen finnischen Kapitale in Kunst und Architektur zu genießen.

Während sich das junge eEstland über das in der Verfassung verbriefte Grundrecht auf einen Internetzugang der Welt öffnet, festigt es, wie auch die baltischen Nachbarn Litauen und Lettland, über eine Hingabe zur Musik, speziell zum Gesang, seine physischen Wurzeln. International erfolgreich ist die Dirigentendynastie der Järvi (der Vater Neeme, die Söhne Paavo und Kristjan); gemessen an der Bevölkerungszahl gibt es in keinem Land der Erde so viele Menschen, die regelmäßig in Chören singen. Das seit 150 Jahren stattfindende Sängerfest in der Universitätsstadt Tartu macht im Sommer die ganze Stadt zum Konzertsaal.

Das gemeinsame Singen kann als Bekenntnis der Esten zu ihrer kleinen Nation gehört werden. Die Sonnenwende am 21. Juni ist traditionell ein Fest, das die Familien und Freude hinaus in die Natur treibt und sie musizierend das Leben feiern lässt. Der 23. August hingegen ist ein dunkler Moment im kollektiven Gedächtnis; 1939 schlossen Hitler und Stalin ihren Pakt zur Aufteilung Nordosteuropas, der das Baltikum der Sowjetunion zuschlug. Am 23. August 1989 schlossen sich rund eine Million Menschen von Tallinn über Riga bis Vilnius zu einer fast 600 Kilometer messenden Menschenkette zusammen. Dieser „Baltische Weg“, begleitet von zahlreichen Volksliedern, war eine eindrückliche Demonstration für staatliche Souveränität, die am 20. August 1991 auch Realität wurde.