Vereinsamung bedeutet nicht, dass wir keine Freunde und Bekannte gehabt hätten – davon hatten wir stets genug -, sondern beschreibt das Leben in einer Gesellschaft, die ihre Ohren verschließt vor allen Mahnungen, die die Augen verschließt und auf dem Weg des Brudermordes weitergeht und alle und jeden auf diesem Weg mit sich reißt. – Nadeschda Mandelstam
Dania fuhr den Rechner hinunter, etwas früher als sonst. Für heute hatte sie ihr Pensum erledigt, offizielle Termine hatte sie keine mehr. Sie packte ihre Sachen zusammen und verließ das Gebäude, in dem bis 1990 das Außenhandelsministerium der DDR angesiedelt war und das in den Jahren danach aufwändig saniert worden war. Beste Lage Unter den Linden, mit Blick auf die Botschaft der Russischen Föderation und die Komische Oper – im Zentrum der Hauptstadt liegen das Finstere und das Heitere stets nah beieinander. Das ließ sich auch über ihr Ziel sagen, das Café Einstein vis-à-vis ihres Büros, Treffpunkt für Politiker, Journalisten, PR-Leute, Start-up-Gründer und Touristen, die einen Blick auf die anderen erhaschen wollen.
Sie hatte Elke diesen heiklen Ort vorgeschlagen, weil er einfach zu finden war, verkehrsgünstig lag und es hier Kaffeespezialitäten fast auf Wiener Niveau gab. Elke hatte ihr Kommen kurzfristig angekündigt, regelmäßig in Mails über das Geschehen zu schreiben, war ihre Sache nicht; gerade deshalb hatte Dania der Anregung eines Treffens freudig zugestimmt. Als sie, die Hitze des Junitages hinter sich lassend, das abgeschattete Café betrat, sah sie Elke in einer Ecke sitzen, über eine Zeitschrift gebeugt. Die Blicke der Beiden trafen sich, sie umarmten einander zur Begrüßung und saßen sich mit einem breiten Lächeln gegenüber. Der junge Kellner, der in seiner Kluft aus weißem Hemd und schwarzer Weste wie ein Schauspieler wirkte, kam an ihren Tisch. Dania bestellte eine Tasse heißer Schokolade mit dem Kalorienwert einer Zwischenmahlzeit und einem unglaublich sahnig-weichen Geschmack; vor Elke stand bereits ein hohes Glas, dessen Inhalt nach Eistee aussah.
Die beiden Frauen hatten sich über ein Jahr nicht gesehen, sie trafen sich meist, wenn Elke beruflich an der Spree zu tun hatte. Sie hatten sich vor 25 Jahren im Dreiländereck kennengelernt, als sie beide im Sonnenwinkel der Republik eine neue Arbeitsstelle antraten. Dania fing als Referentin für Öffentlichkeitsarbeit eines Mittelständlers an, Elke erhielt eine Professur an der lokalen Universität. Ihre damaligen Partnerinnen lebten jeweils an anderen, weit entfernten Orten, gelegentlich trafen sie sich zu viert, meist jedoch zu zweit. Sie gingen ins Kino und kochten zusammen, liefen den Schlossberg hoch und fuhren mit den Rennrädern auf den Gipfel des Schauinsland. Auch als Dania dann für einen neuen Job Richtung Brandenburg wegzog, hielten sie lose beruflichen Kontakt; so lektorierte sie zwei Bücher, die Elke verfasste. Bis heute wusste sie nicht mit Bestimmtheit zu sagen, ob sie eigentlich auch befreundet seien.
Elke fragte sie, wie es ihr gehe. Dania zögerte mit der Antwort, entgegnete schließlich ehrlich, dass es ihr schlecht gehe. Ihre Depression blieb chronisch, als Kassenpatientin war es ihr unmöglich, einen Platz zur Behandlung bei einem Psychotherapeuten zu bekommen, ihre Selbstmedikation mit verschiedenen psychoaktiven Substanzen führte bedrohlich in Richtung einer Abhängigkeit, sie wollte am liebsten die Tage im Bett im abgedunkelten Zimmer verbringen, abends hing sie erschöpft am Schreibtisch und stierte leblos auf das Relief der Raufasertapete. Das erzählte sie aus dem Bedürfnis heraus, im Aussprechen dieser tristen Befindlichkeit sich ein wenig Erleichterung zu verschaffen. Im semikriminellen Milieu des Bundestages gab es keinen Raum für eine solche Offenheit. Dort lauerten die sogenannten Kollegen nur auf ein Zeichen der Schwäche, um sie dann entschlossen die Treppe hinunterzustoßen.
Elkes Reaktion war bezeichnend. Sie zeigte keinerlei Spur einer inneren Beteiligung, stellte vielmehr klinische Fragen nach dem Zeitpunkt der Einnahme der Präparate sowie ihrer Dosierung, ohne mit diesen Informationen irgendetwas anfangen zu können; ihr Gesicht blieb dabei ausdruckslos. Dania kam zur Gewissheit, dass Elke über die hinter der beschriebenen Depression und dem Substanzkonsum liegenden Gefühlen ihres Gegenübers nicht sprechen wollte. Angesichts der nebensächlichen Nachfragen kam sich Dania vor wie eine Versuchsperson im Labor, die Elke in der Vorbereitung einer neuen Arbeit interviewte, nicht wie eine Freundin, an deren Lage sie Anteil nahm. Ihr Versuch, einen emotionalen Kontakt zu ihrer langjährigen Bekannten herzustellen, ging ins Leere, die Dimension einer Freundschaft, wo so etwas möglich sein müsste, wurde verfehlt.
Im Gegenzug berichtete Elke von ihrem laufenden Forschungsprojekt, das sich um den Klimawandel und die politische Reaktion darauf drehte. Dania hörte interessiert zu, sie schätzte es, durch ein Minikolloquium an aktuelle Fragen der Sozialwissenschaft herangeführt zu werden. Doch nicht zum ersten Mal in diesem Zusammenhang fiel ihr ein dogmatischer Eifer Elkes auf, der die zulässigen Grenzen eines bürgerschaftlichen Engagements überschritt und von einer sachlich-nüchternen Distanz der Wissenschaft zu ihrem Forschungsgegenstand nicht mehr viel erkennen ließ. Bereits während der Corona-Jahre hatte Elke einen autoritären Zug, mit dem sie das staatliche Pandemieregime vom Impfzwang über die Maskenpflicht bis zum Kontaktverbot umstandslos guthieß, artikuliert. Die sich hier auftuende kommunikative Lücke zwischen ihnen ließ sich kaum mehr überbrücken; instinktiv mieden sie Themen, zu denen sie erkennbar unterschiedlicher Auffassung waren und bei denen Konflikte unumgänglich wurden.
Schließlich mussten die beiden Frauen aufbrechen, Elke war mit einer Kollegin zum Abendessen verabredet, auf Dania wartete eine Aufführung von La Traviata in der Deutschen Oper. Sie gingen durch die drückende Hitze des frühen Abends über die baumlose, dafür wieder autoverstopfte Friedrichstraße zur U-Bahn. Sie verabschiedeten sich mit warmen Worten und versprachen einander, per Mail den Kontakt zu halten. Als Dania im Wagen Richtung Charlottenburg saß, drängte eine Welle der Traurigkeit nach oben. Sie war enttäuscht von der Begegnung mit Elke, was nur ein Ausdruck überzogener Erwartungen war. Vertraut waren sie einander durchaus, nur blieb dieses Verhältnis ohne echte Annäherung. Sie hatten sich für die Dauer eines Cafébesuches genug zu sagen, um dies gleich nach dem Abschied wieder zu vergessen. Eine echte Verbindung zwischen den raren Treffen war auf diese Weise nicht zu stiften.