Gab es einen Punkt in deinem Leben, an dem sich dein Kleidungsstil dramatisch verändert hat? Was ist passiert? – Leanne Shapton, Sheila Heti, Heidi Julavits: Frauen und Kleider. Was wir tragen, was wir sind
Kerstin war fast angezogen. Sie hatte eine geschlagene Stunde im warmen Badewasser gelegen und duftete leicht nach Apfel, als sie sich in ihr Frotteetuch hüllte. Nach dem Abtrocknen gab sie eine Handvoll Babypuder unter die Achseln und zwischen die Beine, der den Geruch der reinen Haut noch verstärkte. Sie kämmte ihre langen Haare und steckte sie zum Dutt gewunden auf dem Scheitel fest. Summend zog sie ihre schwarz glänzenden Strumpfhosen bis zur Taille hoch, die dünne Corsage darüber modellierte ihre Hüften und ließ ihre kleinen Brüste sich neugierig emporrecken. Den schwarzen Netzbody mit halblangen Armen knöpfte im Schritt zu. Nun stieg sie abschließend in ihr Etuikleid, farblich zwischen Crème und Mauve changierend, ärmelfrei mit U-Boot-Ausschnitt, ein schmeichelndes Gemisch aus Seide und Baumwolle, leicht figurbetonend, der Rocksaum endete gerade oberhalb des Knies. Das Kleid lag auf ihren Schultern, sie zupfte an Brust und Bauch herum und rief: „Tobias, kannst Du mir bitte den Reißverschluss nach oben ziehen?“
Der so Gerufene kam aus dem Flur ins Ankleidezimmer und blieb kurz staunend stehen, als er seine Freundin beäugte. Er trat an sie heran und legte ihr den rechten Arm um die Taille und schnüffelte in ihren Nacken. Dann besann er sich seines Auftrags und zog den Reißverschluss im Rücken des Kleides mit einem Ratsch nach oben. Schwungvoll drehte Kerstin sich zu ihm um und sagte: „Voila, merci!“ Tobias strich ihr von der Schulter über die Flanke und gab ihr einen Klaps auf den Po. Dann küsste er sie auf die noch ungeschminkten Lippen und sagte: „Wie schön Du doch bist, meine Perle.“ – „Danke, mein Lieber. Noch ein wenig Make-up, und wir können gehen.“ Sie musterte sich im körperhohen Spiegel und war sehr angetan von dem, was dieser ihr entgegenwarf: Das Kleid saß wie angemalt, es formte ihren Torso automatisch mit dezenten weiblichen Rundungen und ließ den Gliedmaßen freies Spiel. Sie wand einen dünnen schwarzen Gürtel um die Taille und legte den Bolero um die Schultern.
Als sie sich zum Schminken an die Kommode setzte, musste sich schlucken vor Rührung und Glück. Nur ein Narr würde in ihr keine Frau sehen können. Tobias und sie hatten sich vor zwei Jahren während einer Geschäftsreise kennengelernt, bald darauf wurden sie ein Paar. Seit knapp einem Jahr wohnte sie in seiner weitläufigen Wohnung, ihre eigene hatte sie vermietet, erste Fragen nach einer Heirat von seiner und ihrer Seite wurden ihnen gestellt. Manchmal kam sie sich vor wie das kleine hässliche Entlein, das wider Erwarten zum strahlenden Schwan geworden war. Die ersten Male mit Tobias im Bett waren für sie eine Qual voller Erwartungen und Zweifel gewesen. Hätte sie ausreichend Platz für ihn? Was, wenn er ihren nackten Körper so sehen würde, wie Gott und die Medizin ihn geschaffen hatten? Er hörte sich ihre Geschichte an und sagte nach einer längeren Pause: „Ich habe Dich als Frau, als Kerstin kennengelernt, als solche liebe und begehre ich Dich. Was, wie oder wer Du früher einmal warst, ist Teil Deiner Geschichte, aber nicht unserer gemeinsamen.“
So einfach war das also, entgegen ihren Ängsten vor Zurückweisung, Spott und auch Aggression. Dass Kerstin zur Frau über den Umweg des männlichen Geburtsgeschlechtes gehen musste, war mit Zeit, Aufwand, Geld und Ablehnung verbunden; doch hatte dieser Weg mit all seinen Mühen sich für sie gelohnt. Sie trug die Maquillage auf und puderte diese sorgfältig ab, ihr Teint schimmerte rosig golden. Ein wenig Mascara ließ die verlängerten Wimpern wie dichte Markisen klappern, der blutrote Lippenstift wurde zur Kirsche auf der Torte. Sie steckte sich zwei goldgefasste Perlen in die Ohrlöcher und legte die Perlenkette, ein Erbstück ihrer Großmutter, um den Hals. Ans rechte Handgelenk streifte sie einen kupferfarbenen Armreif, am linken Ringfinger trug sie einen schmalen Ring aus Rotgold. Als Finish gönnte sie sich einige Sprühstöße ihres Lieblingsparfums von Etro, verspielt, lieblich, sinnlich. Schließlich schlüpfte sie in ihre schwarzen Pumps und rief: „Tobias, ich bin gleich so weit, wir können dann los.“
Vor dem Garderobenspiegel löste sie ihr mahagonibraunes Haar, das ihr in lockeren Wellen auf die Schultern fiel. Sie kämmte sich ein paar Mal mit einem grobzinkigen Kamm und klammerte eine Strähne hinter dem linken Ohr fest. Sie drehte sich einmal um ihre Achse und prüfte sich kritisch, nur um nichts zum Mäkeln zu finden. Sie strich sich reflexhaft das Kleid über dem Schoß glatt und suchte ihre Schultern nach einzelnen Haaren ab, vergeblich. Lächelnd schlüpfte sie in den Mantel, den Tobias ihr hinhielt. Sie hielt kurz inne und legte ihren Kopf auf seine Schulter, er fragte: „Was ist denn, mein Reh?“ – „Nichts, gar nichts. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass Du mit mir ausgehen willst. Ich bin so glücklich mit Dir.“ Er streichelte ihr über die Wange und nahm ihren Arm: „Und ich mit Dir.“ Kerstin griff nach ihrer sonnengelben Handtasche und trat durch die geöffnete Tür, das Taxi wartete bereits.
Im Foyer der Oper herrschte reges Gemurmel und Gewoge, die Premiere der Ballettgala war natürlich ausverkauft und das Thema der Saison. Was für eine Fügung, dass Tobias sich für Konzerte, Oper und sogar Ballett interessierte, auch wenn es ihr manchmal so schien, als käme er nur ihr zuliebe mit. Sie gab ihren Mantel an der Garderobe ab und bedeutete ihm, noch kurz zur Toilette zu gehen. Mit den Karten in der Hand blickte er ihr nach, wie sie sich in die Schlange vor der Damentoilette einreihte. Hier fand das übliche Defilee des Sehens und Gesehenwerdens statt, die Frauen beäugten einander, prüften die Kleider der anderen, ihre Frisur und ihre Figur, ihr Make-up und ihren Schmuck. In dieser weiblichen Konkurrenz schien Kerstin gut aufgehoben zu sein, ihr schlanker hoher Wuchs wurde durch das Etuikleid in attraktive Form gebracht. Als sie vor dem Spiegel über dem Waschbecken ihre Lippen nachzog, dachte sie, Mädels, wir fischen im selben Teich. Gestreckt verließ sie die Toilette und schritt auf Tobias zu, die Blicke der Männer wie der Frauen auf ihrem Hintern und ihrer Brust.
Als sie ihre Plätze im Parkett eingenommen hatten und das allgemeine Gurren und Flügelschlagen beim Heben des Vorhangs erstarb, legte Tobias ihr seine Hand auf das Knie und strich mit dem Daumen über den Saum des Kleides. Es durchrieselte sie selig ob dieser intimen Geste im Halbdunkel des Zuschauerraumes, sie hätte nichts dagegen, rutschte seine Hand den Schenkel nach oben und noch höher Richtung Scham. Dass Tobias sie so offensichtlich wollte als Frau, machte sie auch nach zwei Jahren Partnerschaft dankbar und sprachlos. Seine Rücksichtnahme, wenn sie sich ankleidete, dazu die intime Hilfe beim Schließen des Reißverschlusses, die Selbstverständlichkeit, mit der er sich an ihrer Seite in der Öffentlichkeit zeigte und sie vorführte als die seine – Kerstin konnte sich nicht vorstellen, dass er seine Exfrau nicht genauso respektvoll und galant behandelt hatte. Nun tat er es mit ihr, und dass sie eine Transfrau war, tat seiner Haltung keinen Abbruch. Sie war für ihn seine Partnerin, mutmaßlich seine Trophäe, nicht sein Fetisch.
Im Bett war er anfangs vorsichtig, er fragte, bevor er etwas tat, er hörte zu und ließ sich von ihr führen. Schließlich füllte er sie aus, was sie vor Lust zum Schreien brachte. Er entdeckte an ihr, wie sensitiv die weiblichen Brustwarzen sein können und bedachte ihre Neoklitoris mit der notwendigen Zeit und Aufmerksamkeit. Sie fühlte sich dabei nicht objektiviert wie ein seltenes Insekt unter dem Mikroskop, sondern eher wie eine Rekonvaleszente, die peu à peu herausfinden muss, was schon wieder geht und was noch etwas Zeit braucht. Sie war ja eine Überlebende der männlichen Gestalt, deren Schleppe sie selbst viel intensiver wahrnahm als andere. Als sie Tobias mit den Fingern, ihren Lippen und ihrer Zunge verwöhnte, schien er etwas zu finden, wonach er sich heimlich gesehnt hatte. Als er dann nach dem Kommen vor ihr einschlief, war sie nicht sauer, dass er sich nicht um sie gekümmert hatte, sondern erfreute sich seines Vertrauens angesichts seiner Wehrlosigkeit.
Als nach dem ersten Akt die Zuschauer zur Pause ins Foyer strömten, wurden sie mit ihrer festlichen Kleidung und dem fohlenhaften Gestelze um die Stehtische selbst Teil der Inszenierung. Freundliches Nicken in die Runde, Nippen an Sektgläsern, Kommentare zum Geschehen auf der Bühne, Lachen und Scherzen. Da entdeckte Tobias im gemessenen Durcheinander offenbar einen Bekannten, die beiden Männer sprachen raumgreifend miteinander und Tobias machte eine Gebärde in ihre Richtung: „Darf ich vorstellen: Meine Freundin Kerstin, mein alter Studienfreund Jannik.“ Dieser Jannik schaute sie mit einem Wonneblick an, der Tobias nur als Kompliment vorkommen konnte. Junge, was ist denn das für eine Frau, schien er zu sagen. Kerstin gab ihm artig die Hand und lächelte ihn liderklimpernd an. Dann stieß Julia dazu, Janniks Frau, die wohl gerade von der Toilette kam, auch in einem Etuikleid, ihres in Tannengrün. „Ein tolles Stück, nicht wahr. Und Polina tanzt noch immer himmlisch, als gäbe es keine Schwerkraft.“ Jannik schien sich auszukennen und das Stück tatsächlich zu genießen. „Geht Ihr hinterher noch aus?“ fragte er beim Betreten des Parketts nach der Pause.
Als das Licht erlosch, fingerte Kerstin nach Tobias‘ Hand, die er ihr bereitwillig überließ. Sprach er mit seinen Kumpeln über ihre Transidentität? Befriedigte sie ihn? Fühlte er sich insgeheim in seiner Männlichkeit verunsichert, wenn er mit ihr schlief? Sie hatte anlässlich eines Gartenfestes seine Schwester kennengelernt und fand sie erfrischend langweilig mit ihrem Job als Lehrerin und den beiden pubertierenden Kindern. Gottlob hatte Kerstin ein Alter erreicht, wo niemand mehr per se eine Mutterschaft von ihr erwartete. Dass sie mit Tobias Kondome verwendete, lag einzig daran, dass deren Schmierfilm das Eindringen in ihre Neovagina weniger schmerzhaft machte. Als sie nach der Aufführung ihre Mäntel an der Garderobe abholten, war es Julia, die vorschlug: „Sollen wir noch auf einen Sprung ins Plaza gehen? Nach dem Ballett habe ich Lust, selbst etwas zu tanzen.“ Dabei blickte sie vor allem Kerstin an. „Warum nicht, morgen ist Samstag, und der Club liegt praktisch um die Ecke. Was meint Ihr? Passend angezogen seid Ihr ja nun wirklich.“, entgegnete Tobias mit Blick auf die beiden Frauen.
Der Club war ins fahle Licht der Scheinwerfer getaucht, die Schatten zuckten überlebensgroß an der Wand. Kerstin hatte ihren Bolero abgestreift, sie tanzte gemeinsam mit Julia zu der treibenden Musik und dachte dabei an die komplexen Choreografien, die sie vor kurzem noch von der Compagnie und der Ballerina gesehen hatte. Und dann spürte sie eine Hand an ihrem Po, wie zufällig tatschte ein junger Mann im Vorbeigehen danach. Sie hatte kein Interesse an einer Szene und übte sich im Ignorieren des Typen. In ihr stieg die Lust auf, mit Tobias zu schlafen. Dieser war im Gespräch mit Jannik an der Bar vertieft, ein Tänzer war er weiß Gott nicht, eher ein Preisrichter mit Blick auf die weiblichen Körper in Bewegung. Sie stolzierte auf die beiden zu und streichelte ihrem Freund über die Schulter. Dieser legte ihr lächelnd die Hand in den Nacken, als wollte er den Reißverschluss ihres Kleides hier vor allen Leuten öffnen. Mach doch, dachte sie, ich kann mich sehen lassen.