Zu den bevorzugten Schlagwörtern im sozialpolitischen Diskurs der Gegenwart zählt der „Fachkräftemangel“, ad nauseam wiederholt. Keine Woche vergeht, ohne dass ihn ein Politiker, ein Ökonom, ein Journalist oder ein Verbandsfunktionär mahnend im Munde führt. Der so beschriebene Sachverhalt bedrohe das Rentenniveau, das Wirtschaftswachstum, die Steuereinnahmen, den Wohlstand, kurz, den Frieden und gar die Existenz der Republik. Die geburtenstarken Jahrgänge der späten 1950er und 1960er Jahre gingen sukzessive in den Ruhestand, ohne dass ausreichend viele Berufsanfänger ihnen nachfolgend in den Arbeitsmarkt einträten – der Fachkräftemangel als Schicksal des demographischen Wandels, voilà.
Diese Arbeiterlosigkeit führe dazu, dass sich gut qualifizierte Berufstätige ihre Arbeitgeber aussuchen könnten, so die nächste Strophe des Klageliedes. Um die offen bleibenden Stellen überhaupt besetzen zu können, sei eine Nettomigration von mindestens 500.000 Menschen pro Jahr erforderlich, andernfalls drohe ein dramatisches Absinken der Produktivität, lautet die Schlussfolgerung. Eigentlich rosige Bedingungen für die Jobsuche, denkt sich auch Sascha. Sie gehört rechnerisch zur sogenannten Boomer-Generation, hat aber bis zur Rente noch knapp zehn Jahre vor sich. Angesichts ihrer durch Brüche, Wechsel und Latenzen geprägten Berufslaufbahn stellt sie sich darauf ein, im Ruhestand noch nebenerwerbstätig zu sein. Nun plant sie aus familiären Gründen den Umzug aus der Metropole zurück in ihre alte Heimat.
Frohen Mutes geht sie an die Bewerbungen. Sie weiß, was sie will, sie weiß, was sie kann, und sie fühlt sich bereit für eine erneute Veränderung. Sie verfügt über einen Universitätsabschluss und hat die letzten zehn Jahre durchgehend auf ihrem Qualifikationsniveau gearbeitet. Sie bringt Expertise aus der Politik, der Verwaltung, dem Handel, dem öffentlichen Dienst und der Freiberuflichkeit mit, hat Auslandsaufenthalte im Gepäck, spricht passabel Englisch und Französisch und verfügt über Grundkenntnisse in Italienisch und Russisch. Sie hat sich regelmäßig weitergebildet, kann sich rasch in neue Zusammenhänge einarbeiten und ihr Wissen und Können auf bislang unvertraute Felder transponieren. Sie geht routiniert mit dem Office-Paket um, versteht HTML und Python, kennt die Stärken der verschiedenen sozialen Netzwerke und weiß um die Chancen und Grenzen generativer KI wie ChatGPT und Stable Diffusion. Der rote Faden ihrer Vita ist die Kommunikation, analog wie digital, schriftlich wie mündlich, werblich wie literarisch, konzeptionell wie operativ.
Mögliche Arbeitgeber sind mit diesem geisteswissenschaftlich grundierten Profil klar definiert: Agenturen, Kammern, Pressestellen, Lektorate, Verbände, Referate, Redaktionen, Stäbe. Diese findet sie auf einer einschlägigen Webseite, auf der sich potentielle Arbeitgeber auch regional eingrenzen lassen. Nach einer Aktualisierung ihres CV und ihrer Zeugnisse macht sie sich an die Recherche; dies geschieht stets am Wochenende, weil sie abends nach einem schlauchenden Tag im Büro zu fahrig ist, um noch stundenlang konzentriert in eigener Sache arbeiten zu können. Hat sie dann eine Stelle gefunden, deren Anforderungen sie nach eigener Einschätzung zu mindestens zwei Dritteln erfüllt, schreibt sie ein individualisiertes Anschreiben, freundlich, seriös, zuversichtlich und humorvoll, vergisst auch die Angaben zu Gehaltswunsch und frühestmöglichen Einstiegstermin nicht. Nach dreifachem Korrekturdurchlauf lädt sie Anschreiben und Anlagen inklusive eines ansprechenden Portraitfotos im Bewerberportal hoch oder versendet sie per Mail.
Und dann passiert, nach einer automatisierten Bestätigung des Eingangs der Bewerbung – nichts. Keine Post, keine Mail, kein Anruf. Keine Einladung zum Gespräch vor Ort, auch kein Vorabgespräch auf digitalem Wege, geschweige denn das Bekunden des Interesses einer Anstellung. Sascha ist darauf vorbereitet, dass sie länger nach einem attraktiven Arbeitgeber suchen muss, dass nicht der erste Schuss ein Volltreffer sein wird; dazu hat sie im Verlauf ihres Jahrzehnte währenden Berufslebens ernüchternde Routinen bei der Jobsuche entwickelt. Doch nun muss sie feststellen, dass die Unternehmen, die Stellen schaffen und ausschreiben, heute genauso unverschämt und unprofessionell agieren wie vor 30 Jahren: Sie antworten einfach nicht. Dieses Muster zeigt sich unvermeidlich, seit fast zehn Monaten sucht Sacha nun kontinuierlich nach einer neuen Beschäftigung, aus einer festen Position heraus, doch eine Reaktion seitens der Adressaten gibt es nicht. Sie hätte ihre Unterlagen auch gleich in den digitalen Papierkorb verschieben können.
Sie zieht für sich das Fazit, dass das allfällige Gerede vom Fachkräftemangel eben nur Getöse ist, bar jeder Substanz. Unternehmen nutzen es als willkommene Ausrede, um das eigene Geschäftsmodell in Zeiten von Digitalisierung und Automatisierung nicht anpassen zu müssen. Und sie kommt zum Schluss, dass sie nun mit Ende 50 für die angeschriebenen Firmen, Agenturen, Redaktionen und Betriebe viel zu alt ist. Diese wollen keine Erfahrung, sondern Formbarkeit ohne jeden Anspruch. Alte sind permanent krank, teuer und unflexibel, bestehen auf Urlaub und geregelter Wochenarbeitszeit, haben keine Ahnung vom Internet und gendern nicht, hören Wagner und erzählen vom Mauerfall – also sind sie untauglich für die Arbeit in bunten, dynamischen Teams. Eine weitere Lieblingserzählung heutiger Karriereberater ist die hohe Effektivität gemischter Belegschaften – für Alte, die den Jungen als Sparringpartner zur Seite stehen können, gilt dies ausdrücklich nicht.
Zum Refrain des Lamentos vom Fachkräftemangel gehört das Erschließen bislang ungenutzter Reserven. Die Kinderbetreuung soll verbessert werden, damit mehr Frauen aus der Teilzeit in die Vollzeit wechseln; Umschulungen und Weiterbildungen sollen erforderliche Qualifikationen nachholen; Zertifikate ausländischer Bewerber sollen schneller anerkannt werden; Alte sollen nicht wie bisher abschlagsfrei in Frührente gehen, sondern zum Weiterarbeiten animiert werden. Doch bei den jungen Personalern, die mittlerweile auch KI-Algorithmen zur Rekrutierung neuer Kräfte einsetzen, stößt Letzteres auf Ablehnung. Sie kalibrieren ihre Software dergestalt, dass sie alle Bewerber, die vor 1990 geboren wurden, nüchtern aussondert. Das werden sie natürlich niemals öffentlich zugeben, denn rechtlichen Schritten im Zuge eines Verstoßes gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) wollen sie sich nicht aussetzen.
Im März 2024 sind nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit 2,76 Mio. Menschen in Deutschland arbeitslos gemeldet, 3,6 Mio. Menschen gelten als unterbeschäftigt, lediglich 707.000 offene Stellen sind bei der Agentur gelistet, aber 5,8 Mio. Arbeitssuchende samt Familien beziehen Leistungen nach der Grundsicherung. Diese Zahlen sind deutlich niedriger, als sie es Anfang des 21. Jahrhunderts waren, aber sie sind konstant hoch, vor allem sind sie eine Antithese zum allseits beschworenen Fachkräftemangel: Es gibt nicht genug Stellen, um alle, die arbeiten wollen, können und müssen, in Lohn und Brot zu bringen. Alte Menschen, so Saschas Erfahrung, sind dabei auf dem Arbeitsmarkt besonders wertlos; sie zu selektieren kann sich jedes Unternehmen folgenlos leisten. Sascha fehlen informelle Kontakte und Netzwerke, um auf dem verdeckten Arbeitsmarkt zu reüssieren. Zur professionellen Entwicklung bleibt ihr die Wiederaufnahme der Freiberuflichkeit. Daran feilt sie nun, sie wird sich selbst zur Marke machen und sich projektweise anbieten. So empört sie auch über das wegwerfende Verhalten der Unternehmen ist, ihr Selbstwertgefühl lässt sie sich nicht nehmen.